Diskurs als Möglichkeit eines besseren Lebens
Reisen, Lesen und Erzählen als Steigerung eines besseren Lebens bei Gerhard Köpf*
Gerhard Köpf ist ein zeitgenössischer deutscher Autor. Sein Werk „Bluff oder das Kreuz des Südens“[1] trägt in seinem literarischen Schaffen eine besondere Bedeutung, weil dieses für Jugendliche geschrieben worden und die Erzählweise im Vergleich zu seinen früheren Werken einfacher ist. In diesem Werk geht es, wie in den anderen früheren Werken Köpfs, um die Kraft des Erzählens, das Reisen und Lesen, die Suche nach dem persönlichen und gesellschaftlichen Glück, die Vergeblichkeit dieser Suche, weil sich weder das persönliche noch das gesellschaftliche Glück realisieren, sondern nur in der Vorstellungskraft nachleben lassen.
Angesichts der Erzählweise, der Thematik und der Figuren in diesem Roman – die eine Hauptfigur ist Özal, der aus der Türkei, dem Land der Ahnungslosen kommt – ist es aufschluβreich, dieses Werk zu untersuchen. Der Ich-Erzähler macht sich mit seinem Freund Özal auf den Weg nach Neuseeland auf, um seine Sehnsucht zu stillen und seinen Traum zu verwirklichen, weil er sein Elternhaus, die Groβstadt, Deutschland und die Kultur, in der er aufgewachsen ist, nicht mehr aushalten kann.
Die Folgen dieser Reise in Neuseeland sind alles andere als Verwirklichung seines Traumes, da der Ich-Erzähler mit seinem Motarrad den Tod Özals verursacht. Aber dort begegnet er seinem Groβvater, von dessen Erzählen und Lebensweisheit er fasziniert wird. Das Leben ist alles andere als das, was man sich vorstellt. Man sollte auf all die Enttäuschungen, denen man im Leben begegnet, gefaβt sein.
Der Leser wird im ersten Kapitel auf die notwendige Ausreise des erzählenden Ich von seiner Heimat hingewiesen, indem die Gründe für diese Reise angeführt werden. Das erzählende Ich will Deutschland verlassen, weil es sich wegen den herrschenden Umständen dazu gezwungen fühlt: “Und wie ich weg wollte! Weg aus diesem Land, weg von diesen siebzig Millionen, weg von Schuleelternwiedervereinigung. Es war nicht mehr zum Aushalten.“ (S. 8) Die Reise scheint für das erzählende Ich ein Ausweg zu sein. Es hält die Umstände sowohl zu Hause: „Meine Eltern sind Pauker: er Deutsch und Geschichte, sie Sozialkunde und Ethik.(...)“ (S. 10), weil seine Eltern ihn sehr schlecht behandeln: „Stundenlang analysierten sie an mir herum. Zum Erbrechen.“ (S. 35) als auch in der Heimat für unerträglich: „Aber die Leute sind dumm und hören gar nicht hin, wenn du ihnen etwas erklären willst.“(S. 12) Die existierenden Umstände in seiner Heimat sind mit ihren Supermärkten, Tennisplätzen, und Kläranlagen, trotz aller Wohlfahrt, in Bezug auf die Zukunft für das erzählende Ich besorgniserregend, weil die Gefahr der Atomkraftwerke von der Mehrheit nicht wahrgenommen und deren Existenz von der Molkereifabrik nicht unterschieden wird (Vgl. 9). In seiner Heimat sind die Dinge angesichts der bestehenden atomaren Gefahr erstarrt und es wird Phantasie und Hoffnung auf eine mögliche Veränderung kein genünügender Platz eingeräumt: „In Glenelg sind die Guten die Guten und die Bösen die Bösen.“ (S. 18)
All die angeführten ungünstigen Umstände lassen das erzählende Ich in die Verzweiflung geraten: „Die vielen Menschen, das Gerenne und Gestoβe, das schon auf dem Bahnsteig begann, verstörten mich. Ich fühlte mich hilflos und verloren, suchte die Straβenbahn und fuhr, eingekeilt in die Massen, hinaus in die Vorstadt.“(S. 13), aber er sucht in seinen Gedanken nach einem Ausweg, der sich ihm als eine mögliche Lösung für seine Probleme bietet: „Ich aber denke an Bluff.“ (S. 10) Die Reise ins Unbekannte, die Sehnsucht in die Ferne, d. h. nach Bluff oder dem Kreuz des Südens scheint für den Ich-Erzähler der einzige Ausweg zu sein, sich der Erstarrung, die um ihn zu Hause und in seiner Heimat waltet, und der bürgerlichen Enge zu entfliehen.
Unter diesen Umständen begibt sich der Erzähler mit seinem besten Freund Özal, der wie er selbst von der Kraft des Lesens überzeugt ist, auf die Reise nach Bluff: „Plötzlich begannen wir uns, zur Überraschung meiner Eltern, für Bücher und Geographie zu interessieren. (...) Das Lesefieber hatte uns gepackt. Aber das Lesefieber war nur das Vorfieber auf das Reisefieber. Wir wälzten dicke Bildbände, studierten Reiseführer, beschafften uns Flugpläne, konnten gar nicht genug davon bekommen. Bis sich schlieβlich ein Wort herauskristallisierte: Bluff!“(S. 21) Durch die Beschäftigung mit dem Lesen, bzw den Reiseführern wird die Reise unerläβlich: „Der Reader’s Digest Guide to New Zealand wurde unsere Lieblingslektüre./ In Bluff Highway 1 ends at the Pazific. So ein Satz warf uns glatt um. Nie hätte ich geglaubt, das Wörter das können.“(S .21)
Reisen und Lesen werden hier sowohl als Möglichkeit, aus der Enge der sozialen Beziehungen, die zu einem groβen Nichts führen, zu entfliehen als auch ein Ausweg aus dem Dilemma begriffen, in dem der Ich-Erzähler steckt. Reisen und Lesen geben Impulse, einen Ausstieg aus dem alltäglichen und dem gesellschaftlichen Leben und Einstieg in ein besseres Sein: „(...) meistens las ich, schlug mich mit Gelegensarbeiten durch, nachdem mich ein Buchhändler hinausgeworfen hatte, weil ich bestimmte Bücher, die ich gerade las, nicht verkaufen wollte. Und ich begann, in der Weltgeschichte herumzuvagabundieren. Das Reisen nimmt das Hölzerne aus dem Menschen. Die Träume eines Menschen, der viel gereist ist, sind reicher als die eines Menschen, der nie verreist war.“(S. 84-85) Beide Tätigkeiten sind dadurch auch als Möglichkeit und Mittel verstanden, in Bewegung zu sein, als Reise zu sich und zu den anderen, d.h. als Icherweiterung: „Jede Reise birgt in sich den Wunsch, über den eigenen Schatten zu springen.“(S. 85) und sie vermitteln auch Orientierung im Leben, da dadurch die Dinge aus einer breiten Perspektive wahrgenommen werden können: „Ich mag solche Karten, denn sie verschaffen mir die Illlision, in einer gläsernen Flugzeugkanzel zu sitzen. Aus phantastischer Höhe sind Straβen und Kurven ebenso erkennbar wie Eisenbahnstränge, Seen, Bäche, Flüsse, Dörfer, Wälder und Autobahnen.“(S.85)
Doch Bluff zu erreichen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, da es in seinem Wesen liegt, weil Bluff sowohl Kreuz des Südens als auch Sternbild bedeutet (Vgl. S.12). Zwar wird Bluff am Ende der Welt als Reiseziel gewählt, aber das läβt sich mit keiner Ortschaft identifizieren: „Am Ende der Welt liegt ein Ort namens Bluff. Bluff, Neuseeland. Das heiβt zwar so, ist aber kein Bluff.“(S. 7) Bluff als Destination ist sowohl Ende der Welt, als auch Anfang und daher auch nicht als bestimmbarer Punkt zu denken, von dem zu den anderen Ortschaften der Welt weite Strecken zu fahren ist. „Am Ende der Welt aber steht ein Wegkreuz, das genau angibt, wie weit ist es ist zum Äquator und zum Südpol, wie weit nach Sydney, London, New York und Hobart, Tasmanien.“(S. 7)
Mit der Erwartung, in Neuseeland Bluff und das Kreuz des Südens zu sehen, steigen beide auf das Motorrad, auf dem der Ich-Erzähler am Steuer sitzt. Aber Bluff erscheint ihm als Fatamorgana: „Mit Vollgas suchen wir den blanken Himmel ab. Das Kreuz des Südens leuchtet uns entgegen. Aber da verschwindet das Kreuz des Südens plötzlich hinter einem Baum. Es versteckt sich in seinem Wipfel. Ich darf mein Gewicht nicht verlagern, ich muβ die Lenksstange umklammern, weil ich dem Kreuz des Südens folgen muβ, ihm nach, so sagt eine Stimme in mir.“(S.42)
Das erzählende Ich erlebt diese Reise, entsprechend dem Wesen des Reiseziels, unerreichbar zu sein, wie im Traum, in dem das Ersehnte einem immer aus den Händen flieht, der Weg zum Ziel verschwindet, je mehr man sich dem Ziel nähert: „In diesem Augenblick kann ich mich nicht darum kümmern, dass ausgerechnet hier die Straβe eine weite Kurve macht, eine weite, langgestreckte, völlig ungefährliche Kurve, die erst dann zur Gefahr wird, wenn am Himmel plötzlich das Kreuz des Südens leuchtet.“ (S. 44)
Da die beiden auf der Straβe mit Motorrad sind, d.h. auf dem Boden der Realität, und Bluff im Himmel erscheint, führt diese Fahrt, wobei sein bester Freund Özal tödlich verunglückt wird, nicht nach Bluff, sondern sie endet in den Gebüschen eines Waldes, weil der Ich-Erzähler als Fahrer seinem Reiseziel selbst im Wege steht: „Aber dem Kreuz des Südens steht die Thulserner Schwerkraft entgegen. Im letzten Augenblick reiβe ich den Lenker herum, die Honda kracht gegen die Leitplanke, ich fliege vom Schaukelpferd und spüre, wie wir durch die Luft segeln, wie in Zeitlupe, langsam unendlich langsam, vielleicht überschlagen wir uns sogar, das ist jetzt nicht wichtig, mir kommt jedesmal vor, als flöge ich dem Kreuz des Südens entgegen.“(S. 43) Seine Absicht, in Neuseeland Bluff und das Kreuz des Südens zu erleben, wurde nicht erfült. So wurde für den Ich-Erzähler die Suche, die eigentlich darauf gerichtet war, sich von der Erstarrung und von der bürgerlichen Enge zu befreien, durch diesen Unfall zu einer Enttäuschung.
Der Leser wird im ersten Kapitel auf die Reise nach Bluff vorbereitet, und gleichzeitig auch ermahnt, dass diese erlebte Reise nicht stattgefunden hat und dass sie mit der Tour mit seinem Groβvater in Verbindung zu bringen sei: “Aber anstatt nach Bluff kam es doch bloβ zu dieser Tour mit dem adoptierten Groβvater.“(S. 8) Der Ich-Erzähler betont, dass es von groβer Bedeutung und ein zentrales Thema ist, die beiden Reisen in einem sehr engen Zusammenhang zu betrachten, da die Reise nach Neuseeland sonst auch nicht verstanden werden könne: „Natürlich hängen der Unfall und die Tour auf ihre besondere Art und Weise zusammen, nur scheint sich keiner ernsthaft darum zu kümmern. Wer sich nicht für das eine interessiert, dem wird auch das andere schleierhaft bleiben.“(S. 8)
Im zweiten Kapitel beginnt nicht die notwendige Reise nach Neuseeland, sondern die Tour mit seinem adoptierten Groβvater Wilhelm Cusbert Falkner, der eigentlich William Faulkner assoziert, dessen Weg das erzählende Ich schon in seiner Heimat auf dem Stadtplan ausfindig macht. Die Lesereise mit den Schriftstellern ist unentbehrlich, da diese seit der Entstehung der Menscheitsgeschichte ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit erheben, indem sie neue Zusammenhänge herstellen, die Hintergründe ans Tageslicht führen und die Einzelheiten in der Beziehung zu den gegebenen Umständen in Verbindung bringen, deren Kraft nicht einmal Gott standhalten kann: „Die Groβväter sind die Lehrer“, las er daraus vor, „die eigentlichen Philosophen jedes Menschen, sie reiβen immer den Vorhang auf, den die andern fortwährend zuziehen. Wir sehen, sind wir mit ihnen zusammen, was wirklich ist, nicht nur den Zuschauerraum, wir sehen die Bühne, und wir sehen alles hinter der Bühne. Die Groβväter erschaffen seit Jahrtausenden den Teufel, wo ohne sie nur der liebe Gott wäre.“(S. 88)
Diese Tour mit dem Groβvater ist nicht anderes als eine Lesereise in den Werken William Faulkners, in unbekannte Horizonte, Ortschaften , die der Ich-Erzähler im Arbeitszimmer mit groβem Vergnügen unternimmt: „Als Kind habe ich mir dabei vorgestellt, welche Reisen ich unternehmen könnte. Auch nach Alaska oder Australien: mit dem Finger auf der Landkarte. Die schönsten Reisen mache ich immer vom Fenster aus.“ (Heimat, 117) Auch sein Groβvater versucht die Welt mit all ihren Widersprüchen durch die Reise zu begreifen: „Er schien die ganze Welt bereist zu haben, denn er wirbelte die Kontinente durcheinander, befand sich bald in Alaska, bald in der Südsee. Und gerade das gefiel mir. Endlich da war einer, der sich von keinem Vorschriften machen lieβ und der vor mir nicht die ganze Welt in Watte packte.“(S. 65) Sein Groβvater machte seine Reisen lesend wie der Ich-Erzähler in seinem Arbeitszimmer: „(...) Am Ende des Sommers zogen sie dann wieder in die Stadt, begaben sich auf lange Reisen, wobei er, Rosenwanger, nie sicher gewesen war, ob Falkner diese Reisen nicht bloβ mit dem Finger unternommen.“(S. 119) Es kommt aber dem Groβvater nicht darauf an, zu reisen, sondern es erscheint ihm wichtiger, über seine Reisen zu erzählen: „Groβvater hatte in Wirklichkeit gar nicht vor, diese Tour zu machen. Viel lieber erzählte er von ihr. Dabei versetzten ihn seine Worte in einen deratigen Rausch, dass er auf seine Phantasie hereinfiel.“(S. 44)
In dieser Lesereise, d.h. in den Werken von William Faulkner, wird der Erzähler durch die Gespräche mit den Groβeltern des unüberwindlichen Gegensatzes der Kommunikation in seinem Elternhaus; während seine leiblichen Eltern ihm ständig Befehle erteilen und seinen Blick zu bestimmen versuchen, eröffnen ihm die erzählten Geschichten der adoptierten Groβeltern weitere Horizonte: „Während zu Hause meine Mutter sicher ihr Tragödiengesicht aufsetzte, erzählten die Falkners von ihren vielen Reisen rund um die Welt. Mir war, als müste ich den Boden unter meine Füβen neu erfinden.“(S. 17) Was seine Eltern ihm zu Hause verschwiegen, fand alles in den Gesprächen mit dem Groβvater und der Groβmutter seine Antwort: „Noch nie habe ich so viel über alte Zeiten erfahren, über Trümmerfrauen und Nachkriegsjahre, Inflation und Währungsreform wie in den Gesprächen mit Groβmutter.“(S. 27)
Durch die Erfahrung einer andersartigen Kommunikation zwischen seinen adoptierten Groβeltern wird dem Erzähler der leere Umgang seiner Eltern mit ihm bewuβt, und auch das, dass die Beziehungen zu Hause und in seiner Heimat zu der Erstarrung führen: „Ich mochte Falkner, ich habe ihn auf Anhieb gemocht. Er war anders als die anderen. Er schien immer zu sagen, was er dachte, und er schien immer erwas zu tun, wovon er überzeugt war. Er wuβte, was das ist: das Kreuz des Südens. Davon war ich von Anfang an überzeugt.“(S. 91) Es wird für den Erzähler durch die Begegnung mit einer besseren Welt unerläβlich, all diese Beziehungen in seinem Elternhaus und in seiner Heimat zu verneinen und die Werte seiner Eltern durch die seiner Groβeltern zu überbieten und diese zum Maβstab des alltäglichen Lebens zu machen, da sie dadurch ihre Gültigkeit einbüβten: „Ich frage mich ohnehin, ob ich jemals über diese besondere Beziehung hinwegkomme, von der meine Eltern so gerne schwätzen. Ich möchte lieber so sein wie mein Groβvater.“(S. 12)
In seinen Gesprächen erfährt er vom Groβvater, der sich ständig Visionen setzt, die zu erfüllen sein ganzes Leben in Anspruch nimmt: „Hör zu! Wir müssen weg. Dorthin, wo der Gold mit Topf zu finden ist. Ans Ende des Regenbogens.“ (S. 39) Diese Vison zu erreichen, kommt gar nicht in Frage. Der Groβvater will zwar Gold finden, aber die Suche danach ist ihm wichtiger. Der Gedanke beschäftigt ihn noch mehr, davon zu träumen, im Bewuβtsein dessen daran zu arbeiten, als es zu besitzen: „Doch nicht auf das Gold kam es ihm an, sondern auf seine Vision.“(S. 103) Wenn es gelingt, dies zu verwirklichen, verliert das Ersehnte, das Erträumte seinen Wert: „Gold sieht aus wie Hundescheiβe“, sagte Groβvater, „und die Geschichte des Goldes ist die grausamste Geschichte von allen. So versessen war ich einmal auf Gold, dass ich selbst den Toten die Goldzähne herausgebrochen hätte.“(S. 104) Er verliert sie nie aus den Augen. Beschäftigt er sich mit einer anderen Tätigkeit, begreift er sie im Konzept seiner Vision, als ob er nach Gold suche: „In Groβvatersmonologen tauchte immer häufiger die Idee mit dem Gold auf, obgleich ich wuβte, daβ es ihm dabei nicht wirklich auf das Gold ankam. Sein gröβtes Glück bestand eher darin, Kartoffeln aus seinem schmalen Acker zu budeln, im Kompost herumzuwühlen, sein Steingemetzel zu veranstalten und ab und zu Groβmutter hinters Licht zu führen.“(S. 44) Der Gedanke an die Goldsuche hält ihn am Leben, weil er diese Suche als einen langwierigen Prozess betrachtet, der sich in andere Tätigkeiten verwandeln kann; auch Lesen steht im Konzept der Goldsuche, auch eine Gelegenheit, die sich bot, seine Frau kennenzulernen: „Rosenwanger kam dazu und lieβ sich berichten. Er schüttelte immer wieder den Kopf. Mit leiser Stimme erzählte er, wie Falkner eines Tages hier aufgekreuzt war, um tatsächlich nach Gold zu suchen. Er habe aber nichts gefunden, sondern sich in die Hütte zurückgezogen, und viel gelesen. Dann sei er Elsbeth begegnet, die der Arzt nach einer schweren Krankeit ins Gebirge geschickt hatte.“(S. 119)
Auf dem Weg zur Vision erlebt der Groβvater viele Unfälle, Niederlagen, die eher Regel als Ausnahmen zu betrachten sind. Da auf diesem Weg kein Sieg in Frage kommt, gilt es beharrlich, mit Inbrunst daran zu arbeiten: „Auch ich weiβ, wo Gold zu finden ist. wir müssen nach Rauris. Ob Rauris oder Bluff, das ist einerlei. Über Rauris nach Bluff. Das ist der Weg. Das einzige, worauf es ankommt, ist die Vision: der eine nennt sie Rauris, der andere eben Bluff.“ (S. 39) Angesichts der Tatsache, dass einem auf dem Weg zu dieser Vision etwas Schlechtes passieren kann, bekommt der Ich-Erzähler von seinem Groβvater die Lehre, dass er an seiner Vision festzuhalten hat, und er nicht aufhören soll, an seinen Traum fest zu glauben: „Werde einer, der zehntausendmal unterliegt und doch immer wieder aufsteht. Werde einer, den keine Verzweiflung klüger macht, der mit den Jahren, je älter und vollständiger er besiegt wird, desto leidenschaftlicher an die Erfüllung seiner Träume glaubt. Dann spürst du, wie sich die Erde unter deinen Füssen dreht. Lernen kann unsereiner nur durch Irrtümer, Hirngespinste und Illusionen – und durch seine eigene gottverdammte Dummheit. (S. 83-84)
Wenn der Ich-Erzähler die Eigenschaften seiner Eltern mit denen seines Groβvaters vergleicht, wächst seine Abscheu vor ihnen, ihrer Visionslosigkeit, ihrer Erstarrung, weil sie die bestehenden Umstände nicht einmal begriffen, ihre Handlungen in Bezug auf eine mögliche Veränderung nicht in Frage gestellt und keine neue Zusammenhänge hergestellt hatten. Seine Eltern, die durch die Proteste das Regime zu verändern versucht hatten, waren dessen nicht bewuβt, dass sie durch ihre Handlungen das Bestehende eher etabliert, weil sie die Vision unterschätzt und nicht begriffen hatten, dass es ein sehr langer Prozess ist: „Wenn er betont, wie gut er mich verstehe, finde ich ihn bescheuert. Wahrscheinlich liegt das an den berühmten 68ern, durch die er angeblich gegangen ist.(....) Wenn ich das schon höre: die 68er! Das klingt so, als hätte er am Krieg teilgenommen.“(S. 11) Der Erzähler betrachtet die Handlung der 68er, zu denen auch seine Eltern gehören, nämlich durch Proteste, durch Demonstrationen das Bestehende zum Sturz zu bringen, als Visionslosigkeit, da die Handlungen schon Teil der existierenden Verhältnisse sind: „1968: das war ihr Kreuz des Südens. 1968: das war ihr Bluff.“(S.35)
Der Ich-Erzähler will keinen Augenblick verschwenden, das Bestehende durch Proteste zu stürzen. Das Geheimnis liegt vielmehr in den alltäglichen Handlungen, die diese Veränderungen heraufbeschwören. Er ist eher auf sein persönliches Glück, auf seine Handlung konzentriert, die er als Individuum und nicht in einer Gruppe, in einer organizierten, politischen Bewegung vollzieht: „Sie hatten ihre Demonstrationen, ich hatte Nele.“ (S. 35):
SCHLUβFOLGERUNGEN
Gerhard Köpf erzählt hier eine erlebte Reise nach Neuseeland. Reisen und Lesen sind zentrale Thematik, die diesem Werk zugrundeliegt. Die beiden Tätigkeiten werden als Mittel zur Icherweiterung begriffen. Durch die Bekanntschaft mit seinem adoptierten Groβvater führt der Junge über sein Leben, seine Entwicklung aufschluβreiche Gespräche. Sigrid Mayer bewertet deshalb dieses Werk als einen „Beitrag zur Jugendliteratur“ eine „Lektüre für Schüler“. [2]
Das Besondere in diesem Werk ist aber, dass Gerhard Köpf eine Reise nach Neuseeland gemacht und diese Reise zu der Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Maurice Shadbold geführt hat, dem auch dieses Werk gewidmet ist.[3] In diesem Werk wird diese erlebte Reise als traumartig beschrieben, als eine in der Vorstellungswelt erlebte, erfundene Reise. Dadurch wird diese erlebte Reise in Frage gestellt, dagegen die Tour mit dem Groβvater Wilhelm Cusbert Falkner, nämlich mit William Faulkner als eine erlebte, durch die der Junge Lektüre über sein Elternhaus, über seine Heimat und über das Leben überhaupt vermittelt bekommt. An dieser Tour läβt Köpf reale Personen, seine Eltern, seine Freundin teilnehmen. Cusbert Falkner symbolisert an und für sich den Autor William Faulkner, der aber hier als ein fiktionaler Charakter erscheint, sich in das Leben des Erzählers einmischt, ihn aus seinem Elternhaus rettet, und auch seine Beziehung mit seiner Freundin regelt, die er allein nicht aufrechterhalten könnte. Durch die Infragestellung dieser erlebten Reise stellt Köpf auch die Wirklichkeit in Frage, und dadurch, dass ein fiktionales Erlebnis – Lesereise – als eine erlebte Tour erzählt wird, ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass sich die im Lesen gewonnene Lektüre in reale Erlebnisse verwandelt wird, und daher auch den Anspruch erheben kann, als eine erlebte Geschichte zu gelten und erzählt zu werden. In diesem Werk sind Wirklichkeit, Traum und Illusion so ineineander verkeilt, dass es unmöglich scheint, festzustellen, wo erlebte Geschichte beginnt und endet, inwiefern erfundene Geschichten in die erlebten Geschichten verwickelt sind.
Es macht keinen Unterschied, ob die erlebte Geschichte wirklich in der Realität geschehen ist: „Ob ich alles so erzählt habe, wie es sich wirklich ereignet hat, ist nicht mehr wichtig. Die Wirklichkeit läβt sich vermutlich sowieso erst dann erzählen, wenn eine Geschichte daraus geworden ist.“(S. 124) Erst eine erzählte, oder erfundene Geschichte macht es möglich, über die Wirklichkeit zu sprechen, so der Groβvater: „Manchmal stimmt das, was wir erzählen. Aber es stimmt viel eher, wenn wir es erfinden. Und das Erfundene läβt sich nicht an der Wirklichkeit messen.“(S. 124)
Literaturverzeichnis
Köpf, Gerhard: Bluff oder das Kreuz des Südens. Roman, München 1991
Köpf, Gerhard: Heimat.: In: Vom Schmutz und vom Nest. Aufsätze aus zehn Jahren. Frankfurt/M. 1991
Köpf, Gerhard: Manchmal stimmt das, was wir erzählen. Aber es stimmt viel eher, wenn wir es erfinden. Gerhard Köpfs „Bluff oder das Kreuz des Südens“ In: Loquai, Franz (Hrsg.) : Gerhard Köpf. Portrait. Eggingen 1993
Loquai, Franz: Der blaue Weg des Möglichen. Franz Loquai im Gespräch mit Gerhard Köpf: In: Franz Loquai (Hrsg.): Der blaue Weg des Möglichen. Materialen zum Werk Gerhard Köpfs. Bamberg 1993
MAYER, Sigrid: Gerhard Köpf. Der blaue Weg des Möglichen oder Südpazifisch-deutsche Literaturbeziehungen In: Volker, Wolf (Hrsg.): Lesen und Schreiben. Tübingen 1995
*Hüseyin Kahramanlar. Dokuz Eylül Üniversitesi. Yabancı Diller Yüksekokulu Almanca Okutmanı, Dr.
[1] Gerhard Köpf: Bluff oder das Kreuz des Südens. Roman, München 1991. Demnach wird im laufenden Text nach dieser Ausgabe zitiert.
[2] MAYER, Sigrid: Gerhard Köpf. Der blaue Weg des Möglichen oder Südpazifisch-deutsche Literaturbeziehungen In: Volker, Wolf (Hrsg.): Lesen und Schreiben. Tübingen 1995, S. 140
[3] Vgl. Franz Loquai: Der blaue Weg des Möglichen. Franz Loquai im Gespräch mit Gerhard Köpf: In: Franz Loquai (Hrsg.): Der blaue Weg des Möglichen. Materialen zum Werk Gerhard Köpfs. Bamberg 1993, S.130
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