Rebellion durch Geschichten-Erzählen

ERZÄHLEN ALS MOTOR DER SELBST- UND WELTVERWANDLUNG BEI GERHARD KÖPF
Gerhard Köpf ist ein deutscher zeitgenössischer Autor, im Zentrum dessens Schreibens Erzählen liegt. Er ist überzeugt, dass eine humanere Welt erst dann gelingen kann, wenn humanere Geschichten erzählt werden können. In diesem Zusammenhang wird hier eine seiner fiktionalen Werke untersucht und zwar sein letztes Werk “Nurmi oder die Reise zu den Forellen.1996[1]”, denn dort erzählt Gerhard Köpf die Geschichte einer Beziehung zwischen dem Onkel und seinem Neffen, der sich in die Haut seines Onkels verwandeln will.
In diesem Werk geht es darum, das Verlieren zu lernen, da es ein Bestandteil des Lebens ist. Um etwas Wertvolles zu erreichen, sollte man sich nach Onkel Nurmi auch bereit erklären, etwas zu verlieren. Das ist der zu bezahlende Preis des Lebens. Auf der Reise nach Finnland wird nicht nur diese Beziehung dargestellt, sondern auch die Bedeutung geschichtlichen Denkens und des Erzählens, was Köpfs Schreiben zugrundeliegt. Für Köpf ist Geschichten – Erzählen der Sinn, das Zentrum des Lebens. Um sein Selbst und die Verhältnisse zu verwandeln, ist der Mensch auf das Gespräch, Erzählen angewiesen. Die zu erzählenden/erzählten Geschichten sollten in Betracht gezogen werden, d.h der Mensch sollte nicht die herkömmlichen Geschichten erzählen, da die Machthaber in diesen Geschichten immer als Sieger begrüßt werden, sondern auch solche, in denen die Herrscher auch verlieren können. Solange die bestehenden Geschichten in den Erzählungen weitererzählt werden, ist es kaum möglich, dass die Menschheit eine humanere Welt gestalten kann. Es kommt nur auf den existierenden Diskurs an, der die Wahrnehmungsweise, der Menschen unter Kontrolle nimmt und dadurch auch sein Handeln steuert.
Es ist daher eine unabdingbare Voraussetzung, sich mit den erzählten Geschichten auseinanderzusetzen und eine humanere, mögliche und durch die menschliche Hand beeinflußbare Welt statt der schicksalhaften, faktischen darzustellen.
In dieser Erzählung wird die Reise zu den Forellen dargestellt, die der Neffe mit seinem Onkel gemeinsam unternimmt. Während der Reise führen der Onkel und der Icherzähler Gespräche, die die Erzählung durchziehen und die die Bedeutung der erzählten Geschichten im menschlichen Leben thematisieren. Die geführten Gespräche vermitteln ausführlich Einsicht in die Lebensgeschichte des Onkels. Der Fluβ, an dem sie fischen, lässt sich als Lebenslinie, die sich bis zum Gegenwartspunkt erstreckt, verstehen: „Um meinen Onkel zu wirklich verstehen zu können, muβ ich zurückgehen in meine Kindheit, denn nichts auf der Welt ist zu vergleichen mit dem Fluβ, der aus der Kindheit herüber durch unsere Erinnerungen rauscht.“(S. 9)
Aus den Gesprächen geht hervor, dass zwei Erzähler, die eigentlich Schriftsteller sind, im Leben des Onkels eine sehr groβe Rolle spielen. Er trifft einen Amerikaner, in dem er das Sinnbild menschlichen Wesens sieht. Charakteristisch für ihn ist, dass er sein Leben in die Schrift oder umgekehrt die Bücher in das wirkliche Leben zu überführen versucht, ohne dabei einem irgendein Zugeständnis zu machen: „Er wollte seine Lebensgeschichte mit Millionen von Wörtern in die dicken Büchern festhalten. Schwierigkeiten gehe er nicht aus dem Weg, gestand er, sondern gehe mitten durch sie hindurch.“(S. 68) Der Amerikaner mit seiner Einstellung zum Leben und zu den Lebensfragen fasziniert den Onkel, so dass er in seinem Leben von ihm ergriffen wird, und sein Leben nach seinen Prinzipien gestaltet: “Dieser Mann war der typische Einzelgänger, der sich nach Gemeinschaft sehnte, und diese nicht ertragen konnte, sobald er sie fand. Ichsucht und Gier nach Macht nannte er die Grundübel unserer Zeit.“(S. 69)
Die Begegnung mit dem Amerikaner hat sein Leben derart beeinfluβt, dass es zu einer Identifikation mit ihm kommt und er ihn zu seinem Vorbild macht. Der Onkel Nurmi ist während der Machtübernahme von Hitler nach Vereinigten Staaten geflohen, um der Hitlermacht nicht zu dienen. Der ausgewählte Ort seines Aufenthalts hat mit dem Amerikaner zu tun: „Wäre ich diesem Mann nicht begegnet, mein Junge, so wäre ich sicherlich nicht nach Amerika ausgewandert. Dieser Mann hat mir die Augen geöffnet. Er hat mir das Loch gezeigt, durch das ich aus meiner Welt schlüpfen konnte.“(S. 69)
Ein anderer Schriftsteller kommt hinzu, der aus einer schottischen Familie stammte und den Onkel Nurmi sehr tief beeinflusste. Die Eindrücke des Onkels über die Art und Weise, wie er seine Geschichten erzählte, bringen seine Gefühle über diesen Erzähler zum Ausdruck: „(...) es lag weniger an dem, was er sagte, sondern vielmehr daran, wie er seine Worte setzte. Besonders sympatisch war, dass er sich ausschlieβlich an die einfachen Leute wandte. Die meisten seiner Hörer waren Hausfrauen, Arbeiter, Angestellte. Akademiker hätten ihn zweifellos für einen Spinner gehalten.“(S. 84)
Der schottische Erzähler appelliert an das Selbstbewustsein und auch daran, seinen eigenen Weg zu gehen, was nur dann gelingen kann, wenn man von den Einflüssen der bestehenden Umgebung zu befreien versucht: „Dieser Mann in Billings, Montana, brachte seinen Zuhörern bei, sich freizumachen von den Meinungen der Nachbarn, der Verwandten, der Freunde.“(S. 85) Widerstand gegen die bestehenden Umstände leisten zu können, ist wichtigstes Lebenszeichen und Kriterium, wodurch lebendiges Wesen von einem toten unterschieden werden kann: „(...) Merk dir seine Lehre: ‚Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom!’“ (S. 86) Auch der Einfluβ, den der schottische Erzähler auf das Leben von Onkel Nurmi hinterlassen hat, ist von langwieriger Wirkung: „Ich muβ gestehen, dass dieser groβartig Verrückte in mir ein Feuer entzündet hat, das immer noch lodert.“ (S. 85)
Während der Reise in Finland erfährt der Icherzähler, welche tiefgehende Wirkung die Schriftsteller, die die Differenz zwischen dem Erzählten und dem Gelebten überwunden haben, auf das Leben seines Onkels ausgeübt haben. Sein Onkel war ein Läufer, der gegen Nurmi, den bekannten finnischen Sportler, an den Wettkämpfen teilgenommen aber all diese verloren hatte. Als Läufer betrachtet der Onkel Laufen als eine Möglichkeit, sein Selbst zu erkennen: Das Laufen ist vielleicht der kürzeste Weg zu sich selbst. Jeder, der dieses Geheimnis entdeckt, ist ihm auf der Spur und läuft ihm hinterher.“(S. 92) Laufen bekommt andere Dimensionen, so dass diese Tätigkeit sein Leben erfüllt: „Jeden Morgen sei er gelaufen, sommers wie winters, besonders aber winters.“(S. 76)
Der Onkel überwindet die Differenz zwischen dem Laufen und dem Leben, sowie zwischen dem Denken und Leben. All die Tätigkeiten bedingen und fördern sich einander und sind für ihn mit dem Leben auch eins: „Laufen, laufen, das sei immer sein Leben gewesen. Solange er gewesen sei, habe er sicher gewuβt, am Leben zu sein. Seit seinem Studium habe er sich mehr und mehr in die Philosophie des Laufens vertieft und über die Zusammenhänge von Laufen und Denken nachgedacht.“(S. 76) Laufen ist imstande, die Schwierigkeiten, mit denen er im Leben konfrontiert wird, zu überwinden: „Laufend habe er seinen Lernstoff memoriert, und laufend habe er die Knoten in Kopf und Seele gelöst, denn das Unerträgliche sei im Laufen besser zu ertragen.“(S. 76) Laufen wird auch mit dem Lesen und mit der Erkenntnis der Welt verglichen: „Laufen und Lesen stünden übrigens in engem Zusammenhang: die Augen liefen durch die Bücher, und eine Landschaft lese man am besten zu Fuβ. Wer gehe, sehe mehr, als wer fahre. Aber das Dasein sei nicht mehr mit Spaziergängen zu umgehen. Es müβten schon Gedankengänge daraus werden.“(S. 77) Seiner Existenz wird er durch Laufen bewuβt. Er glaubt, seine Existenz sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft durch Laufen sichern zu können: „Du denkst, du wärst allein auf der Welt, denn du weiβt, dass du nur wenige Minuten hast, um deine Existenz zu rechtfertigen. Dein Läuferherz hämmert im Hals. Es dauert eine Ewigkeit, bis der erlösende Schuβ knallt. Und wenn er fällt, dann rennst du in die Zukunft, ins Ungewisse.“(S. 127)
Der Onkel, inspiriert und beeinfluβt von den Erzählern, die zwischen dem Geschriebenen und dem Leben keinen Unterschied kennen, gestaltet sein Leben wie die Erzähler, nämlich als Einzelgänger. Während der Reise in Finland erfährt der Neffe in den Gesprächen genügende Einsicht in das Leben seines Onkels und seine Einstellung zu den Lebensfragen. Da der Onkel überzeugt ist, dass sein Leben in eine Erzählung verwandelt zu werden braucht, führt er sein Leben wie in den Büchern geschrieben. Um die öffentliche Wahrnehmungsweise zu vermeiden, macht er sogar weder von der Straβenkarte noch von den Verkehrsschildern Gebrauch, da er diese als Mittel der öffentlichen Wahrnehmungweise betrachtet: „Wir spielen in unserem eigenen Film. Wir kümmern uns nicht um irgendwelche Straβenkarten, wir lassen uns nichts vorschreiben von einer Sprache, die wir ohnehin nicht verstehen.“(S. 29)
Auf dem Weg zur Selbsterkenntnis, auf dem kein Ankommen in Sicht kommen kann, ist Irrtum eine unabdingbare Voraussetzung und keine Ausnahme: „Der Irrweg ist der Königsweg der Erkenntnis. Er ist die ideale Form, eine Landschaft zu deuten. Das Verirren ist zum Nachdenken erfunden worden. Einen Irrweg gehen bedeutet ja nicht, nicht ans Ziel kommen zu wollen. Im Gegenteil! Bei jedem Schritt, mit dem sich einer verrennt, gibt es eine ganze Welt zu sehen.“( S. 81- 82) Aber dieser Irrtum, den zu begehen Onkel Nurmi sich nicht scheut, sondern bejaht, ist die Suche nach der Wahrheit, dem Weg zur Erkenntnis.
Den Irrweg und das Verrennnen betrachtet der Onkel keineswegs im abstrakten Sinne, von der Praktizierbarkeit entfernt, sondern die Suche nach dem Selbsterkenntnis, bzw. die Suche als Methode nach der Wahrheit soll in der realen Welt, d.h. im alltäglichen Leben, fortgesetzt werden. Da er auch in seinem Leben seinen eigenen Weg gegangen ist, vermeidet er die Hauptstraβen, die jeder vorzieht, nach der Maxime: „Neue Kontinente entdeckt nur, wer mutig genug ist, auf alte Seekarten zu verzichten. Hauptstraβen interessieren uns nicht. Die sind für die anderen da, die nichts sehen wollen. Hauptstraβen werden nur für die Blinden gebaut. Die Hauptstraβe ist immer die Straβe der Niedertracht, denn sie führt nie zum blauen Wunder. Sobald aber die Nebenstraβen auf eine Hauptstraβe führen, biegen wir in die nächste Nebenstraβe ein.“(S. 30-31)
Der Onkel ist überzeugt, dass jeder Verzicht auf seine Prinzipien im Alltag schon der Preisgabe der Wahrheit gleichkommt, ist daher jedes kleine Detail von auβerordentlicher Bedeutung. „Mein Onkel Nurmi war in seinen Wagen, einen alten Volvo, ebenso vernarrt wie ins Fischen.(...) „Weiβt du, mein Junge, ein Volvo, das ist eine Glaubenssache. Für einen Volvo muβ man geboren sein.“(S. 19) Seine Obsessionen und jedes Detail im Alltag steht mit seiner Vision in einer engen Verbindung, auch wenn es um Kleidung geht. Auch einen Hut zu tragen, steht es mit seiner Persönlichkeit, mit seinen Idealen im Zusammenhang: „Einen Hut gekonnt zu tragen, ist nichts weiter als eine Frage des Selbstbewuβtseins.“(S. 27) Um seine Vision nicht zu verraten, geht er sogar mit seinem Hut ins Bett. (Vgl: S. 26) Er trägt nie Mäntel: „Zu Onkels Nurmis Eigenheiten gehörte sein Abscheu vor Mänteln. Niemand hat ihn je in einem Mantel gesehen.“(S. 35)
Die Tätigkeit, die der Onkel während der Reise mit dem Icherzähler vollzieht, ist Fischen, betrachtet er als allerwichtigste Tätigkeit seines Lebens: “Es gibt nichts auf der Welt, was mit dem Glück beim Fischen zu vergleichen wäre. Alles, was du brauchst, ist Glut und Geduld.“(S. 139) Auβer dieser Tätigkeit gibt es nichts Wichtigeres in seinem Leben, weil Fischen auch eine tiefe Investition an Wissen und eine totale Konzentration auf diese Tätigkeit verlangt wie andere. „Als Fliegenfischer war er ein wahrer Künstler.(...) Er kannte alle Tricks, die man bei einer so komplizierten Sache kennen muβ. Er kannte sie, weil er denken konnte wie ein Fisch.“(S. 17)
Der Einfluβ des Onkels auf den Neffen lässt nicht nach, so dass er sich nach dem Tod seines Onkels in seine Lebensgeschichte vertieft und seine Liebe zu einer Frau und Liebesbriefe entdeckt, die sein Onkel an eine Buchhändlerin, namens Margarete Ilse Köhler, geschrieben hatte. Er untersucht die Vergangenheit dieser Liebesgeschichte und erfährt, dass Margarete seinen Onkel mit einem SS Führer, namens Karl Koch, betrogen hatte. Dem Onkel blieb nichts übrig, als sich von ihr zu trennen. Sie setzte die Beziehung mit SS Führer fort, heiratete ihn und wurde schwanger. Mit dieser Beziehung begann auch der Untergang ihres Lebens. Sie wurde zu einer Verbrecherin, die, wie der bayerische Gerichtshof in Augsburg bewies, „in fünf Fällen Anstiftung zu verbrecherischem Mord, in weitern fünf Fällen Anstiftung zu schwerer körperlicher Miβhandlung von Häftlingen“(S. 167 -168) begangen hatte. Sie verlor im Gefängnis den Kontakt mit ihren Kindern. Ihr ältester Sohn nahm sich das Leben. Das blieb ihr nicht erspart; sie beging auch im Gefängnis Selbstmord. (Vgl.S. 168)
Den Icherzähler beschäftigt die Problematik, und stellt sich die Frage, dass sie nicht eine Mörderin hätte werden können, wenn sie sich von dem Onkel des Icherzählers nicht getrennt hätte. Der Icherzähler glaubt, dass sein Onkel mit seiner Einsicht und Vorsehung dies hätte verhindern können. Er ist der Überzeugung, dass Margarete eine andere Lebensgeschichte mit seinem Onkel hinter sich hätte als die mit dem SS Führer: „Ebenso wäre es zu fragen, was aus Margarete Ilse Köhler geworden wäre, wenn sie meinem Onkel treu geblieben wäre. Was hätte geschehen müssen, um dem Geschehen einen anderen Verlauf zu geben, auf wessen Mut und Entschlossenheit wäre es angekommen?“(S. 178)
Auch wenn diese Liebes- bzw. Lebensgeschichte von Onkel Nurmi und Ilse Koch auf den ersten Blick als Einzelfall erscheint, steht es nach dem Icherzähler charakteristisch für die Mittäterschaft des deutschen Volkes, da es die Hitlermacht dadurch bejaht und keinen Widerstand dagegen geleistet hat wie sein Onkel Nurmi, der immer als ein Einzelgänger gelebt hat, und nach Amerika ausgewandert ist, um sich dieser Mittäterschaft zu entziehen. Aber Ilse Koch wurde durch ihre Entscheidung, sich von Nurmi zu trennen, und einen SS Führer zu heiraten, eine Verbrecherin. Diese Liebes- und Lebensgeschichte beeinflusst nicht nur das Leben von Nurmi und Ilse, sondern den Icherzähler und sein ganzes Land. Auch der Icherzähler fühlt sich mitverantwortlich für diese Mittäterschaft: „Der Abschiedsbrief meines Onkels und die Ergebnisse meiner Recherchen zu Ilse Koch machten mich gleichermaβen hilflos und zeigten mir damit auf bisher ungeahnte Weise, wie die Geschichte meines Landes mit meiner eigenen Geschichte und der meines geliebten Onkels zusammenhing. Nichts da mit Gnade der späten Geburt. Alles Lüge. Es gibt sie nicht.“(S. 178 )
Der Icherzähler erfährt von seinem Onkel, dass die Momente bei der Entstehung des zweiten Weltkriegs sehr wichtig sind, in denen die Entscheidungen getroffen wurden. Jeder ist herausgefordert, in solchen Momenten Widerstand dagegen zu leisten, was sich da keimt. Aber wegen der Angst davor, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, kann der Mensch im erforderlichen Moment die richtige Entscheidung nicht treffen, da er sich vorzieht, sich an die bestehenden Umstände anzupassen: „Man weiβ immer, was man tun muβ. Nur die kleinen Ängste halten uns manchmal davon ab, das Richtige zu tun. (...) Das einzige Problem ist das der richtigen Entscheidung.“(S. 64)
Der Neffe wird durch die Erfahrung dieser Liebesgeschichte zwischen seinem Onkel und Margarete Ilse Köhler mit der Geschichtlichkeit einer einzigen Handlung und ihrer unvermeidbaren Folgen auf die kommenden Generationen konfrontiert, was ihn zum Nachdenken darüber zwingt; er begreift, was sein Onkel mit dem Irrtum und dem Verrennen meinte: „Wo immer sich im Leben der Weg gabelt, und er gabelt sich oft, stehst du vor einer Entscheidung, selbst wenn du weiβt, dass kein Weg der richtige ist. Welcher Weg dann doch der richtigere ist, muβt herausfinden: indem du dich irrst oder verirrst. Dazu bedarf es nichts weiter als der Geduld, die so schwer erlernbar ist. Ein zielstrebiger Mensch sieht ja immer nur den kürzesten Weg zum Ziel. Aber er läuft blind durch die Welt. Er hat nämlich kein Auge für das, was sonst noch auf dem Weg oder gar neben ihm liegt. Merkt dir das eine, mein Junge: die Ränder sind immer wichtiger als das Zentrum! Jeder Umweg ist uns wertvoll, solange er nicht zum Ziel führt.“(S. 81)
Wenn man aber diesen Irrtum oder dieses Verrennen in bezug auf die Folgen auf das Leben von Ilse Koch beurteilt, ist es ein ganz anderes Verrennen, das Onkel Nurmi begeht. Das Verrennen, das sein Onkel begangen hatte, erweist sich als unabdingbare Voraussetzung für die Erkenntnissuche. Durch den Irrtum geriet aber Ilse Köhler in die Abhängigkeit von den SS Gruppen und ihren Erzählungen. Daher konnte sie in ihrem Leben die Entscheidungen nicht treffen, sondern sollte erfüllen, was die SS Führer befohlen hatten. Dadurch wurde sie aber zu einer Verbrecherin, da sie sich mit den Nazis sympatisiert und einen SS Führer Karl Koch geheiratet hatte. Ihre Entscheidung, den Onkel Nurmi zu verlassen, und sich mit den Nazis zu sympatisieren, war auch ihr Irrtum, ihr Verrennen in ihrem Leben. Für Onkel Nurmi ist nicht nur Irrtum und Verrennen als Voraussetzung für die Erkenntnissuche charakteristisch, sondern auch Festhalten an den Überzeugungen und dem Glauben, den er durch den Kontakt mit den Schriftstellern erwirbt, in dem alltäglichen Handeln.
Gerhard Köpf stellt in diesem Werk in der Persönlichkeit des Onkels und der Margarete Ilse Köhler dar, dass der Sprachgebrauch eine wesentliche und gestaltende Rolle spielt. Während der Onkel sich an die Tradition der Schriftsteller anschlieβt, und ihre Geschichten an die jüngere Generationenen weiterzuvermitteln zu seiner Lebensaufgabe macht und sie zu seinen Lebensprinzipien erklärt, verfällt Ilse Köhler in die Falle der Nazis. Indem sie ihren Geschichten zuhört und den anderen weitererzählt, wird sie eine Verbrecherin. In dem Verhalten von Ilse Köhler, das das Verrennen des deutschen Volkes in die Naziherrschaft symbolisiert, zeigt Köpf das falsche Sprachgebrauch der Naziherrschaft auf, die Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Um die Wiederkehr eines solchen Regimes zu verhindern, ist der Mensch verplichtet, ein neues Sprachbewusstsein zu schaffen, sich von den herrschenden Wahrnehmung- Denk-und Handlungsmustern zu befreien und die verdrängte, in den Nebenstraβen, abseitsliegende Sprache der Schriftsteller, der Literatur in das Zentrum zu bringen. Mit dem Verrennen, und die Hauptstraβe zu verlassen, sich auf die Nebenstraβen zu begeben, bedeutet gleichzeitig auch dem alltäglichen Handeln, d.h. den erzählten Geschichten zuwenden, und sie als Gestalterin der bestehenden Umstände zu betrachten, und humanere Geschichten zu erzählen und sie zu den Prinzipien alltäglichen Lebens zu machen, da erzählte Geschichten den Menschen eine Wahrnehmung aufzwingen. Für humanere Umstände ist eine veränderte Wahrnehmung erforderlich.
Dieselbe Identifikation des Onkels mit den Erzählern erlebt das erzählende Ich mit seinem Onkel: „Ich will das werden, was mein Onkel ist!“(S. 15) Für den Icherzähler ist der Onkel das Sinnbild menschlichen Wesens: „Für mich verkörperte er alles Wissen dieser Welt. Ich glaube, er war, was man mit dem altmodischen Wort weise bezeichnet.“ (S. 11) Das erzählende Ich fühlt auch sich berechtigt, sich als Erzähler, eine Brücke für die kommende Generation zu gelten, und eine Vermittlerrolle zwischen den Generationen zu spielen, was von dem Onkel mit Genugtuung bestätigt wird: “Nurmi dagegen war mindestens so stolz auf mich wie ich auf ihn. Er lieβ mich glauben, ich sei so etwas wie eine Hoffnung für ihn.“ (S. 11) Wenn der Onkel an der Uni. seine Vorlesungen hält, ist der Icherzähler davon überzeugt, dass sein Onkel glaube, dass sogar Gott unter den Studenten sei: „Ich konnte mir gut vorstellen, dass während seiner Vorlesungen, wenn mein Onkel etwas erzählte, nicht nur seine Studenten, sondern selbst Gott aufmerksam hinhörte.“(S. 32)
Die Gespräche mit dem Onkel erlauben ihm in die Vergangenheit seines Onkels zu reisen, die nötig sind, sein Selbst in der Zukunft aufbauen zu können. Sogar in den erzählten Geschichten, die sein Onkel ihm vermittelt, kann der Neffe fliegen: „Seine Geschichten waren der Teppich, auf dem ich fliegen konnte.“(S. 65) Seinen Onkel als Geschichtenerzähler betrachtet er als unverzichtbar, damit diese Geschichten in das kollektive Gedächtnis vermittelt werden können: „Die Alten sind der Brunnen, aus dem die Jungen schöpfen.“(S. 18) Gerade es sind die erzählten Geschichten, die Selbst- und Weltverwandlung ermöglichen: (...) während mein Onkel erzählte, wurde er ich, und er wurde ich.“(S. 126) Für Köpf ist Erzählen die letzte Möglichkeit, die Welt zu humanisieren: „Erzählen ist Widerstand: auch gegen Unvernunft und Ignoranz, gegen die Leitplanken im Kopf, gegen das schleichende Jahrhundertgift, das da heißt Dummheit.“[2]
Literaturverzeichnis
Gerhard Köpf: Nurmi oder die Reise zu den Forellen. Eine Erzählung. München, 1996
Gerhard Köpf: Komm, stirb mit mir ein Stück. Antwort auf eine literarische Umfrage. In: Köpf, Gerhard: Vom Schmutz und vom Nest. Aufsätze aus zehn Jahren. Frankfurt/ M. 1991, S. 164 – 173.


[1] Gerhard Köpf: Nurmi oder die Reise zu den Forellen. Eine Erzählung. München, 1996
[2] Komm, stirb mit mir ein Stück. Antwort auf eine literarische Umfrage. In: Köpf, Gerhard: Vom Schmutz und vom Nest. Aufsätze aus zehn Jahren. Frankfurt/ M. 1991, S. 171

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