Orhan Pamuk und Künstler
Künstlerische Problematik im Werk von Orhan Pamuk
„Rot ist mein Name“*
Im ersten Kapitel des Romans „Rot ist mein Name“ [1] stellt Pamuk den Held im Grab dar, der Hoffnung hat, dass sein Mörder gefunden wird. Der Roman beginnt, als wäre er eine Kriminalgeschichte. Der im Grab liegende ist ein Künstler, der getötet wurde, weil er damit beschuldigt worden war, die osmanische Kunst verraten zu haben.
Der Leser bekommt keinen geringsten Hinweis auf die Spuren des Mörders. Ein Auftrag von dem Padischah kommt in das Spiel, das in die Problematik des Romans einmündet. Kara, ein ehemaliger Illustrator und Diplomat, der schon von der Porträtkunst der Italiener fasziniert ist, der sich zwölf Jahre in Persien aufgehalten hat und nach Istanbul zurückkehrt, und sich sowohl in der islamischen als auch in der westlichen Kunst gut auskennt, bekommt von dem Padischah den Befehl, ein illustriertes Buch zu verfassen, das die Überlegenheit und die Macht der islamischen Religion symboliseren sollte. Kara gibt den Illustratoren, – Schmetterling, Storch und Olive – den Auftrag, dieses Buch fertigzustellen, in dem aber islamischer Stil betont werden sollte. Doch diese einfache Aufgabe wird zu einem groβen Problem, weil das fertigzustellende Buch, das mit Bildern geschmückt werden sollte, den Grundsätzen der islamischen Religion widersprach.
Dem Leser, der Hinweise auf diesen Mordakt erwartet, wird eine klare Einsicht in die Umstände vermittelt, unter denen die Künstler im 16. Jahrhundert im osmanischen Reich zu arbeiten hatten, in die Arbeitsbedingungen, denen die damaligen Künstler ausgesetzt waren. Ihm wird auch künstlerisches Schaffen im osmanischen Reich, die Stellung der Kunst und der Künstler, und die Einstellung der Herrscher zur Kunst und den Künstlern vor Augen geführt. Der Leser wird mit der Tatsache konfrontiert, dass es einen unüberwindlichen Konflikt zwischen der osmanischen und westlichen Kunst herrscht. Auf der Suche nach dem Mörder des verstorbenen Künstlers wird die gesamte osmanische Kunstgeschichte unter die Lupe genommen und analysiert, kritisert und bloβgestellt.
In der erzählten Zeit herrscht Bilderverbot. Der Padischah fühlt sich von dem heiligen Propheten berufen, zu verbieten, irgendeine Person zu malen, mit der Begründung, das Porträt widerspreche den islamischen Grundprinzipien, das gemalte Bild ersetze irgendeine Person, der Maler könne durch das Gemälde Anspruch darauf erheben, als ein Schöpfer, als ein Schaffender wie Gott zu gelten (vgl. S. 550) und mache dadurch die Existenz Gottes fragwürdig und trete auf die Stufe Gottes. (vgl. S. 216) In den islamischen Ländern konnten die Bilder nicht wie in den westlichen Ländern die Mauer der Kirchen schmücken, weil sie dann wie ein Götzenbild angebetet wurden (vgl. S. 524) und der heilige Prophet Mohammed habe diese Götzenbilder an der Kaaba nicht umsonsten zerschlagen. (vgl. S. 150) Daher sei eine der gröβten Sünden, Bilder zu malen. (vgl. S. 524) Aus diesen Gründen käme diese Tätigkeit gleich, dem heidnischen Vielgötter zu verfallen oder Christ zu sein.
Während der Zeit des Bilderverbots befahl der Padischah den Künstlern im Reich, ein illustriertes Buch, Buch der Feste, anzufertigen, das im ersten Jahrtausend nach dem islamischen Kalender die Überlegenheit, die Macht der islamischen Kunst über die westliche zu beweisen hatte (vgl. S. 151) und das zu „der Liebe und der Farbenvielfalt der von Allah erschaffenen Welt im Menschen wachrufen und den Menschen zum Nachdenken und Glauben führen“ (S. 84) sollte. Hier wird ersichtlich, dass die Herrscher die Kunst als Waffe, als „Schwert und Stolz des Islam“ (S. 445) verstehen, die dazu dient, den Feind anzugreifen und sich gegen den Feind zu verteidigen und „dem Ruhm und der Macht der Osmanen“ (S. 445) beizutragen.
Für die Künstler war es höchstes Glück, die Aufträge der Herrscher zu erfüllen. Sie betrachteten den Padischah als „Grundfeste,“ (S. 40) „Schirmherr der Welt.“ (S. 50) Das war es, dem Sultan zu dienen , was ihrem Leben eine unbegrenzbare Freude bereitete: „und ich spürte eine Zuneigung zu dem Herrscher, die über Bewunderung hinausging.“ (S. 317) Denn höchsten Sinn des Lebens fanden sie darin, ihre Werke nach dem Geschmack des Padischahs zu schaffen: „Wovor ich mich fürchte, ist, zu sterben, ohne das Buch unseres Padischahs vollenden zu können.“ (S. 59)
Während im Reich die Gemälden und die Porträts wegen des Bilderverbots als „groβe Sünde“ und die Künstler, die nach der fränkischen Kunst malen, als „Komplize“ der Franken und ihre Werke als „Lästerung“ der Religion und eine „Ketzerei“ gegen den Islam (vgl. 33) betrachtet wurden, und diejenigen Künstler, die gegen religiöse Regeln und die Befehle der Sultane verstoβen hatten und diejenige, die Bilder malen, hätten auch eine groβe Sünde begangen. Sie sollten daher damit rechnen, dass sie im Jenseits „in der tiefstsen Hölle brennen“ (S. 216) werden und dass „Allah die Maler am Jüngsten Tag aufs härteste bestrafen“ (S. 216) werde.
Den Künstlern wurden auch die Themen aufgezwungen. Sie sollten in ihren Werken die Beschneidungszeromonien der Prinzen, die Feierlichkeiten des Serails, an denen die Einwohner von Istanbul teilnahmen, die Schlachtszenen, in denen Blut vergossen wurde, Kriegsszenen, in denen osmanisches Heer als Sieger, osmanische Soldaten, die die Körper westlicher Feinde in zwei Teile zerschlagen hatten (vgl. S. 517) und Bäume, Vögel, die Schönheit der Natur darstellen: „Es ist unsere Arbeit. Man trägt uns auf, Bilder zu malen, man sagt uns, in jenen Rahmen ein Schiff, eine Antilope, einen Padischah zu setzen, Vögel solcher Art, Männer wie jene dort, und diese Szene der Geschichte soll so eingefügt werden, und wir tun es.“ (S. 34)
Pamuk weist ironisch darauf hin, dass sich die Künstler, denen eine historische Verantwortung zufällt, für die Förderung der Kunst und der Freiheit einzusetzen, davon freimachen wollen. : „Man gibt uns den Auftrag, und wir bemühen uns, wie es die alten Meister taten, das geheimnisvollste, unerreichbar schwierigste Pferd zu zeichnen, das ist alles. Uns später für das verantwortlich zu machen, was man uns aufgetragen hat, ist einfach ungerecht“. (S. 34) Aus dieser Aussage wird auch deutlich, dass die Künstler sich aus dieser trostlosen Enge, in die sie durch die Herrscher getrieben waren, mit logischen Argumenten und mit Rationalisierungen zu befreien versuchen. Sie reagierten auf diese Unterwerfung mit Nachgiebig- und Gleichgültigkeit. Gegen die obrigkeitliche Willkür und Unterdrückung Widerstand zu leisten, kam es ihnen nicht in den Sinn, geschweige denn Hoffnung auf einen Neubeginn und Konstruktion einer besseren Ordnung zu haben und Sehnsüchte nach einer gerechteren und freieren Ordnung zu empfinden. Aus dieser Aussage läβt sich auch keine Spur vom eigenverantwortlichen Gestalten und der Absicht von der Befreiung aus diesen Zwängen ablesen, die man von den Künstlern hätte erwarten können.
Doch es gibt nicht nur religiöse Verbote und Gewissensqualen, denen die Künstler ausgesetzt waren. Die Morddrohungen, die die Künstler im alltäglichen Leben zu spüren bekamen, waren auch auf der Tagesordnung. Sie waren sich ihres Lebens nicht sicher. Dieses Gefühl versetzte die Künstler in Angst, getötet zu werden, wenn ihre Werke dem Gescmack der Herrscher nicht entsprachen. Diesen Repressionen fielen die Künstler oder vermeintliche Regimegegner zum Opfer: “Ich hatte einen Illuminator, der wie die anderen heimlich zu mir kam und bis zum Morgen an dem geheimen Buch für unseren Padischah mi t mir arbeitete«, sagte ich. Er machte die beste Goldverzierung. Eines Nachts ist der arme Fein Efendi von hier fortgegangen und niemals zu Hause angelangt. Ich fürchte, man hat ihn umgebracht, den Meistervergolder“. (S. 43) Sie planen nicht nur Intrigen, sie sind auch in die Mordakte verwickelt, die an den Künstlern, die in ihren Werken den Glauben und die Herrscher schänden, verübt werden. (vgl. S. 179) Um die Künstler zum Schweigen zu bringen, war der Serail als Einschüchterungstaktik für seine "Hinrichtungen, Folterungen, Befragungen, Prügelstrafen, das Ausstechen der Augen und die Bastonade im Namen unseres Padischahs". (S. 316) berüchtigt.
Diejenige Künstler, die ihre Werke nach dem Wunsch der Herrscher geschaffen hatten, wurden von den Herrschern wegen ihrem loyalen Gehorsam und ihrer blinden Unterstützung mit Aufstiegs- und Bereicherungsmöglichkeiten belohnt und in einflussreiche Positionen gebracht. Aus diesem Grund verplichteten sich solche Künstler ihrem Eigenwohl. Gegen diejenige aber, deren Interesse dem Gemeinwohl galt, wurden Intrigen gesponnen. Betrüge und Aufspieβertum waren gang und gäbe in künstlerischen Kreisen. Sie waren mehr Regel als Ausnahme im Reich. Die Künstler verrieten andere Künstler, weil sie gegeneinander in einem Machtverhältnis standen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Bilder zu untersuchen, schuldige Künstler dem Padischah anzuprangern und dem Sultan Bericht zu erstatten, welches Werk gegen die Grundgesetze der islamischen Religion verstoβen hatte: „Aus diesem Grund wird unser Erster Illustrator … seine Augen offenhalten, alle Bildseiten genau inspizieren, wird herausfinden, welche Teufelei, Hinterlist, Verderbtheit und Meuterei die unschuldigen Buchmaler gegeneinander aufgehetzt hat, wird den Schuldigen der unanfechtbaren Gerechtigkeit unseres Padischahs .... liefern.“ (S.333-334)
Im Roman wird es auch auf das unüberbrückbares Spannungsverhältnis zwischen osmanischer und westlicher Kunst hingewiesen. Es ist nichts mehr als der Widerspruch, der sich angesichts der oben genannten Gründen kaum überwinden läβt und der aufgrund seiner Bedeutung vor die Augen des Lesers geführt wird. Indem in der westlichen Kunst die Farben der Herren, der Kaufleute, der Frauen sehr genau gemalt werden, wird in der osmanischen Kunst darüber diskutiert, ob ein Bild in einem Buch einen Platz bekommen könne oder nicht. (vgl. S. 390) Im Gegensatz zu der osmanischen Kunst und den osmanischen Künstlern sind ihre Kollegen im Westen freier und schöpferischer in ihren Werken. Für die Künstler im Westen ist eine unabdingbare Voraussetzung, neue Methoden in ihren Werken anzuwenden und ganz Neues zu erfinden, was noch nie erprobt worden war: „’Die Venezianer messen das Können eines Malers am Finden nie gezeichneter Motive und Methoden’, erklärte der Greis beharrlich“, (S. 173) was aber in der osmanischen Kunst kaum vorstellbar war. Die Künstler malten im osmanischen Reich, was sie von ihren Meistern gelehrt bekommen hatten. „Denn der Illustrator, der unentwegt fünfzig Jahre arbeitet, wird blind, und seine Hand zeichnet das Pferd aus dem Gedächtnis.“ (S. 34)
Westliche Künstler stellen auf ihren Bildern die Personen wirklichkeitsnah dar. Ihre Bilder sind derart schöpferisch, dass man dargestellte Person unter vielen Menschen an seinen Zügen erkennen kann. (vgl. S.43) Um die wirklichkeit der Bilder zu beweisen, führt Pamuk ein Beispiel an, in dem sehr deutlich wird, dass die gemalten Bilder die Wirklichkeit ersetzen, in dem die Bilder für die dargestellten Personen oder für die Gegenstände stehen. Ein König schaute das Bild des Mädchens vor der Entscheidung an, ob er es heiraten wird oder nicht. Das Bild ist so real, dass das gemalte Bild das Mädchen ersetzt. (vgl. S. 292) Die osmanischen Künstler dagegen konnten sich nicht einmal ihren Augen trauen, die Dinge, die sie malen wollten, mit eigenen Augen zu sehen, da es ihnen verboten wurde. Sowohl im osmanischen Reich als auch in anderen islamischen Ländern ist die Rede von den Künstlern, die sich absichtlich erblindeten, um sich von diesem Zwang zu befreien, ihre Bilder nach den Wünshen der Herrscher zu malen. Die Blindheit galt auch als eine Tugend, weil sie den zu malenden Gegenstand mit den Augen nicht zu sehen brauchten: “Allein aus dem Gedächtnis der blinden Malkünstler läßt sich erkennen, wie Allah sein Reich sieht.“ (S. 112)
Dass die Künstler im osmanischen Reich einfach aus dem Gedächtnis malten, führte zur Wiederholung der Methoden, der Muster und zur Dominanz der alten Meister und der Maltradition der Herrscher. Das ist auch der Grund, warum im osmanischen Reich keine Bilder gemalt wurden und in der Malerei keine Entwicklungen zu sehen waren, und warum nur Kalligraphie und Ornamente in der osmanischen Kunst überwiegend dargestellt wurden.
Die Illustratoren verlangten von den Lehrlingen und den Schülern totale Ergebenheit. Die Szenen in einem Bild sollten von den Meistern gelernte Szenen sein. Welche Szene, welchem Bild passte, welche Szene nicht gezeichnet werden konnte, oblag den Meistern. (vgl. S. 163) Die von den Meistern verabreichten Ohrfeige wurden von den heranwachsenden Künstlern als gerecht, nötig beurteilt. „Es war, als wolle er mich auffordern, eine Verfehlung zu vertuschen, um uns vor den Prügeln Meister Osmans zu bewahren, die wir in unseren gemeinsamen Lehrjahren hatten einstecken müssen. In diesem Augenblick glaubte ich an seine Aufrichtigkei.t“ (S. 34)
Sie sollten die Methoden, die Formen und die Muster sehr gut können, und auswendig gelernt haben, wie bei dem Umgang mit dem heiligen Buch Koran, das unveränderlich und in das Gedächtnis eingeprägt ist, um sie in den späteren Werken anzuwenden. Von den Lehrlingen und den Schülern wurde verlangt, keinen persönlichen Stil in den Werken zu entwickeln. Als ein Künstler auf seinem Bild eine Abweichung von der erlernten Kunst darstellte, die aber von dem Padischah erkannt wurde, obwohl er keine Signatur auf sein Werk gesetzt hatte, wurde der Maler nach Byzanz verbannt (vgl. S. 93). Eigenen Stil zu haben, und seine Signatur auf das Bild zu setzen, galt als eine unverzeihliche Sünde, weil beide zu den Merkmalen der fränkischen Künstler gehörten. Die Künstler prahlten damit, keinen Stil zu haben, und bevorzugten, lieber ein Mörder zu sein, (vgl. S. 504) als sich um ihren eigenen Stil zu bemühen, weil dies mit den Sanktionen verbunden war. Einem Künstler wurde in seinem Bild irgendeines Stils bezichtigt. Daher wurde er damit bestraft, seine Augen zu verlieren. (vgl. S. 91) Ein Sohn eines Padischahs malte ein Bild, in dem aber die Signatur des Sohnes erkennbar war. Als der Padischah dieses Bild betrachtete und seinen Sohn wegen seiner Signatur bestrafen wollte, kam der Sohn seinem Vater voraus, indem er seinem Vater ein Dolch in die Brust stach, um sich vor der Strafe zu retten. (vgl. S. 92)
Nicht umsonsten sind solche Bilderverbote, Sanktionen, die den Künstlern aufgezwungen wurden. All die Verbote und die Maβnahmen dienten dazu, die Macht der Sultane aufrechtzuerhalten. Durch die Kunststücke, in denen die Sultane gemalt wurden, wurde auch die Stärke der Sultane repräsentiert und ihre Macht etabliert. „Padischahs, Schahs und Paschas, alle Förderer der Buchkunst, lassen durch die Bücher wie auch die Bilder, die sie in Auftrag geben, ihre Macht verkünden und finden diese Werke wundervoll, weil die Vergoldungen, die Fülle dessen, was der Illustrator an Augenlicht und Mühe aufwendet, ein Beweis ihres eigenen Reichtums ist“, sagte Altmeister Osman.“ (S. 357) Das Mittel war das Kunstwerk, durch das der Glaube, der Machtapparat, die Funktionsfähigkeit der Herrschaft gewährleistet wurde.
Die Herrscher sind sich der Magie bewuβt, die von der Kunst, den Bildern ausgeht. Pamuk geht davon aus, dass es die Künstler waren, die durch ihre Abhängigkeit von den Herrschern ihnen zur Macht, zur Fort- und Duchsetzung dieses Systems verholfen haben. Er weist auch auf widersprüchliche Haltung der Herrscher hin. Padischach lehnt zwar die Methoden der fränkischen Kunst ab, aber er versucht das Bilderverbot umzugehen, indem er seinen Künstlern befiehlt, dass sein Bild in den Seiten des Buchs versteckt bleiben müsse, damit niemand es im Buch merken könne. Einerseits zwingen die Herrscher die Künstler auf, dass sie sich an die heiligen Gesetze von dem Koran halten sollten, andererseits pochten sie darauf, wenn es um ihren Vorteil ging. „Dennoch möchte ich, daß man ein Bild von mir nach Art der fränkischen Meister anfertigt“, hatte der Sultan dann geäußert. „Jenes Bild muß zwischen den Seiten eines Buches verborgen sein. Und du wirst mir sagen, wie ein solches Buch beschaffen sein soll.“ (S. 151) Der Padischah ist von der Bedeutung des Kunstwerks überzeugt, weil er dadurch die Unsterblichkeit erlangt. (vgl. S.149)
Die Künstler beneiden die Gemälde um ihre Überzeitlichkeit und fühlen sich in ihrer Existenz hilflos. Und es ist diese Eigenschaft, überzeitlich, zu sein, die die Herrscher zwingt, ihre Bilder anzufertigen, um ihren Namen zu verewigen. In der Anwesenheit der Bilder, der künstlerischen Werke fühlt man sich seiner kurzlebigen Existenz bewuβt. Der Sinn des Lebens ist, in den Bildern dargestellt zu werden, weil sie für die Ewigkeit bürgen. Das Malen ihrer Bildnisse hatte ihnen eine Magie verliehen, sie so einzigartig werden lassen, daß ich mich selbst für einen Augenblick inmitten der Bilder machtlos und voller Mängel fühlte. Es war, als ob ich den Grund für mein Dasein hier in der Welt eher begreifen würde, wenn ich mich auf jene Art und Weise abbilden ließe.“(S. 149)
Die Welt unveränderbar und von Gott geregelt wahrzunehmen, ist für die Herrscher eine notwendige Voraussetzung, weil sie sich dessen bewuβt sind, dass in der Kunst eine groβe Macht steckt und die Kunstwerke eine auβerordentliche Dynamik haben: „Wenn wir jahrelang Buch um Buch und Bild um Bild betrachten, dann begreifen wir, daß ein guter Malkünstler sich mit seinen Wunderwerken nicht nur einen Platz in unserem Verstand erobert, sondern schließlich auch die Landschaften unseres Gedächtnisses verändert.“ (S. 218) Sogar die Gedanken bekamen ihre Gestalten durch Kunstwerke. Die Bücher und die Bilder sind „Kriterium für die Schönheit des ganzen Universums.“ (S. 218)
Auch die Künstler nahmen wahr, dass das Ende der osmanischen Kunst gekommen ist und nicht mehr fortgesetzt werden kann, weil diese Kunstvorstellung die Zukunft auβer Acht läβt und in der Unveränderlichkeit erfroren ist. Das konnten sie aber öffentlich keinem gestehen. Es blieb den osmanischen Künstlern nichts übrig, als auf diesem aussichtslosen Weg zu beharren. „Am Ende werden unsere Methoden aussterben, unsere Farben verblassen. Niemand mehr wird unseren Büchern und Bildern Beachtung schenken.“ (S. 230) Die abgelehnte fränkische Kunst wird auch die Zukunft bestimmen und die Maβstäbe setzen und wegweisend für die Entwicklung der Kunst bleiben: „Du begreifst sofort beim Anblick ihrer Werke, daß die Methoden der fränkischen Meister der Weg sind.“ (S. 230)
Die Künstler sollten Methoden der fränkischen und der osmanischen Kunst miteinander kombinieren und eine Synthese aus Tradition und Moderne im Geist der Kunst herstellen, um die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst zu erweitern, statt sie abzuleugnen oder sie als satanische Kunst abzutun. Ein Künstler bringt seine Gedanken zum Ausdruck und betont, dass nur dort groβe Kunstwerke geschaffen worden sind, wo die Künstler verschiedene Kunstströmungen miteinander verschmolzen haben: Die Schönheit der Bilder Behzats und die der ganzen persischen Malerei verdanken wir nur der Vermischung arabischer und mongolisch-chinesischer Bilder. Die schönsten Werke von Schah Tahmasp haben den persischen Stil mit turkmenischer Empfindsamkeit vereint.“(S. 217) Es ist eine Voraussetzung für die osmanische Kunst, einen neuen Ausgang aus diesem in der Unveränderung begriffenen Zustand zu suchen: „Wenn heutzutage immer wieder von den Buchmalerwerkstätten des Chan Akbar in Indien gesprochen wird, dann nur, weil er seine Illustratoren angeregt hat, den Stil der fränkischen Altmeister zu übernehmen. Allahs ist der Osten wie der Westen. Allah bewahre uns vor dem Wunsch, rein und unvermischt zu sein.“ (S. 217)
Im Roman geht es um die Problematik der Kunst, der Künstler und des Kunstwerks. Pamuk verweist nicht nur auf die Probleme der Künstler, mit denen sie konfrontiert waren, sondern auch darauf, wie diese hätten gelöst werden können. Die Probleme könnten nur durch die künstlerische Einstellung zu den gegebenen Umständen beseitigt werden. Es gilt daher zur Sache Farbe zu bekennen: „ Ich verberge mich nicht: Für mich verwirklicht sich Feinheit nicht durch Schwäche oder Kraftlosigkeit, sondern nur durch Entschlossenheit und Willenskraft. Ich zeige mich offen. Ich fürchte mich nicht vor anderen Farben, Schatten, vor Massengedränge oder gar Einsamkeit.“(S. 251) Die künstlerische Einstellung verlangt von dem Künstler totale Verwandlung seiner Persönlichkeit in das zu malende Ding: "Ich werde beim Zeichnen eines wundervollen Pferdebildes zu einem anderen Illustrator, der ein wundervolles Pferdebild zeichnet", (S. 372, weil die Herrscher keine "sehenden" Künstler dulden konnten und sie dazu gezwungen hatten, zu malen, nicht was sie sahen, sondern was die Herrscher von ihnen verlangten. Die künstlerische Entfaltung hängt unbedingt damit zusammen, ob er das Gesehene richtig auf die Leinwand bringen kann oder nicht:“Nur dann, wenn ich ein wundervolles Pferdebild zeichne, kann ich sein, wer ich bin.“ (S. 375)
Der Farbe – wichtigstes Material des Malers auf der Leinwand – wird eine gottähnliche Funktion zugeschrieben. Pamuk personifiziert die rote Farbe und bringt sie zum Sprechen. Rote Farbe in einem Anzug wird Zeuge und erzählt von den Ereignissen, die sie je gesehen hatte. Die rote Farbe erzählt auch von den Kriegen, weil sie – die Farbe des Blutes – in den Kriegen vergossen wurde: „Sie war überall, und sie ist überall.“(S. 250) Das sind Attribute, die an Gott erinnern. Die rote Farbe erzählt von den Dingen, als wäre sie Gott. Sie erzählt von den Kämpfen im Serail, weil sie in einem Teppich die Ereignisse beobachtet hat. Sie betrachtet sich als die Quelle des Lebens und des Universums: "Glaubt mir nur, mit mir beginnt das Leben, zu mir kehrt alles zurück." ( S. 251)
Der Künstler läβt durch seine Pinsel auf der Leinwand eine Welt entstehen, die der von Gott erschaffenen Welt standhalten kann: “So ist es, während ich Farbe gebe, als ob ich zur Welt sagte: »Sei«, und die Welt entsteht aus meiner Blutfarbe.“ (S. 254) Und dadurch, dass ein Kunstwerk die Lebenszeit des Künstlers und den Raum überschreitet, weil es in anderen Ländern rezipiert wird, bekommen die Künstler auch die Attribute Gottes. Die Zeit des Bildes und die Gottes haben etwas Gemeimsames: „Deswegen würde ich den Illustrator nach der Zeit fragen. Nach der Zeit des Bildes und nach der Zeit Allahs.“(S. 87) Durch seine schaffenden Hände und durch das auf der Leinwand geschaffene Werk wird der Künstler auch ein Schaffender. „Das Pferd, welches die Hand im Nu aus dem Gedächtnis hinwirft, ist mit Können, Mühsal und Weisheit entstanden und ein Geschöpf, das dem Pferd Allahs nahesteht. “(S. 339) Die gemalten Pferden können den Anspruch erheben, als eine Kreatur gehalten zu werden, als ob sie vom Gotten geschaffen wären. Sie können sogar die von Gott erschaffenen Pferde an Schönheit, Lebendigkeit übertreffen. Beste Pferde kann man nicht im realen Leben, in der Natur, sondern in den Kunstwerken sehen. "Da sie im Lauf ihres Lebens genügend Pferdebilder und wirkliche Pferde gesehen haben, wissen sie sehr wohl, daß ihre Vorstellung vom vollkommenen Pferd durch das zuletzt erblickte Pferd aus Fleisch und Blut beeinträchtigt werden könnte. "(S. 339)
Die geschaffenen Figuren werden zu einem bestimmenden Massstab für göttliche Kreature, und für das menschliche Leben überhaupt. „Jetzt erkannte ich die Schönheit an dem Tier, die einem zarten Dunst gleich vor meinen Augen schimmerte, entdeckte darin eine Kraft, die eine Begeisterung erweckte, zu leben, zu erfahren und alles zu umarmen.“(S. 356) Es wird auch betont, dass die Menschen sich der Existenz und der Gröβe Allahs durch Kunstwerke besser bewusst werden: „Was kann schöner sein als das Bemühen, sich des Universums so zu erinnern, wie Allah es sah, während man die schönsten Bilder der Welt betrachtet?“(S. 434)
Es sind die Kunstwerke, die in das reale Leben umgesetzt werden können. Sie bereichern das Leben des Rezipienten, indem sie ihm neue Perspektive, Gesichtspunkte und ungewöhnliche Zusammenhänge erfahrbar machen: „Die Menschen suchen wahrlich nicht nach einem Lächeln auf dem Bild des Glücks, sie suchen nach dem Glück im Leben. Die Maler wissen dies, doch es ist gerade das, was sie nicht malen können. Aus diesem Grund ersetzen sie die Freude am Leben durch die Freude am Sehen.“(S. 552)
Der Mensch, der verurteilt ist, ein sterbliches Wesen zu sein, kann nur durch künstlerisches Schaffen seine Sterblichkeit überwinden. Erst durch seine Werke gelingt es ihm, die Ewigkeit zu erlangen und in das Reich Gottes aufzutreten. Durch seine künstlerische Arbeit erhöht er sich in den Himmel auf die gleiche Stufe Gottes. Der Künstler, Oheim, der überzeugt ist, dass fränkische Methoden in der osmanischen Kunst angewandt werden muss, weist nach seinem Tod auf der Fahrt zu Gott auf künstlerische Wege hin, die deutliche Unterschiede zu den von den osmanischen gewählten Methode zeigen. Seine religiösen und künstlerischen Überzeugungen, die er aus den Büchern erworben hatte, begleiten ihn während der Reise zu Gott. Das Gelesene, die Gedanken, die in seinem Leben auf ihn einen enormen Einfluss gemacht haben, und die er von den islamischen Intellektuellen gelernt hat, erweisen sich als bestätigt. Da er sich in seinem Leben im Dienst Gottes betrachtete, wird auch auf der Reise in den Himmel, die mehr als 1000 Jahre dauerte, die aber in einem Augenblick erlebte, (vgl. S. 308) von den Engeln als "'ein guter Knecht Allahs, des Allmächtigen" (S. 308) empfangen. Bei diesem Aufstieg zu Gott, indem er die Berge und die Wolken hinaufsteigt, bekommt er die Möglichkeit, die Gröβe des Universums zu erleben. Er nimmt wahr, dass das Universum aus Farben besteht. Er geniesst die Anwesenheit Gottes, indem er mit Ihm Gespräche führt, in denen Gott auf die Richtigkeit seiner religiösen Überzeugungen hinweist. Im Gespräch offenbart Gott, dass Er „im Osten und im Westen“(S. 310) ist, und dass der Sinn des Lebens „Geheimnis“(S. 310) und nicht etwas Endgültiges, wie es in islamischen Ländern geglaubt wird. Das Geheimnis der Welt aufzuspüren hiesse, das Unsichtbare aus dem Sichtbaren her zu erklären versuchen. Es galt daher, den Geheimnissen hinter den Gestalten, die mit dem Unsichtbaren, dem Unerklärbaren umwoben sind, auf der Spur zu sein, und alles nicht mit paraten Interpretationen zu erklären.
Aus dem Himmel betrachtet, haben das von Allah erschaffene Werk Gottes – die Welt und das Universum – und das von dem Künstler geschaffene Kunstwerk Gemeinsamkeiten. "Da ich aus der Entfernung einer Minaretthöhe hinabschaute, erinnerte mich die ganze Welt an die Bilder eines wunderbaren Buches, das ich Seite für Seite durchblätterte"(S. 311) Im Reich Gottes überwindet er die Bindung an Raum und Zeit. Aus der Perspektive Gottes verbindet er die vergangene Zeit mit der zu erlebenden: "Vom Zwischenreich her sind Vergangenheit und Gegenwart im gleichen Augenblick zu sehen, und solange die Erinnerungen der Seele darin verweilen, gibt es keine räumliche Begrenzung."(S. 312)
Gesellschaftliche Aspekte
In diesem Roman geht es nicht nur Kunst, Künstler und Kunstwerk, sondern auch um den Zustand der Bürger in der erzählten Zeit. Pamuk gewährt auch den Lesern eine klare Einsicht in das gesellschaftliche Leben, das wegen Gleichgültigkeit der Herrscher gegenüber alltäglichen Problemen ihrer Bürger kaum erträglich war. Die Sultane, die alles unternahmen, dass die Künstler sich an die Verbote hielten, sorgten sich aber nicht fürs Wohlergehen, und die Gerechtigkeit seiner Bürger. In Istanbul herrschen katastrophale Zustände wegen verlorener und langwieriger Kriege, die viele Menschen ihr Leben kosteten. Es gab ansteckende Krankheiten. Hungersnöte und Epidemien bestimmten die Tagesordnung. Für die Brände, die die Stadt vernichteten, konnten die Herrscher keine Lösung finden. (vgl. S. 20) Die furchtbaren Folgen socher Desaster, unter denen die Bevölkerung litt, wurden von einem Prediger mit der Begründung erklärt, „daß man vom Wege des Propheten Mohammed abgewichen sei, sich von den Weisungen des Korans entfernt habe.“ (S. 20)
Die Sanktionen, die gegen die Künstler verhängt wurden, gab es auch gegen die Bürger, um sie zu erschrecken. Im Gegensatz zu den Künstlern, deren Freiheitsräume ganz beschränkt waren, trieben die Hodschas, die auch im Dienst der Sultane waren, ihr Unfug in der Öffentlichkeit, indem sie Überfälle in die Kaffeehäuser unternahmen, weil dort Kaffee getrunken wurde und Kaffee zu trinken eine unverzeichliche Sünde sei, und die Leute in den Kaffeehäusern eine ernstzunehmende Gefahr für den Islam seien. „Kaffee zu trinken ist Sünde, o ihr Gläubigen! Unser Prophet und Heiliger hat gewußt, daß Kaffee den Verstand benebelt, den Magen durchlöchert, Kreuzweh hervorbringt und unfruchtbar macht, er hat verstanden, daß der Teufel damit sein Spiel treibt, und sich deshalb des Kaffees enthalten. Außerdem sind heutzutage die Kaffeehäuser nur Plätze für Genießer ..... und überhaupt müßte man die Kaffeehäuser noch vor den Sektenhäusern schließen.“ (S. 24)
Die Herrscher bevorzugten, die Bevölkerung mittels der Androhung und der Anwendung von Gewalt ihrer Kontrolle zu unterwerfen, um die Sozialordnung zu gewährleisten, und die Menschen zu einem gehorsamen Verhalten zu zwingen. Aus den religiösen Überzeugungen wurden Kaffeehäuser angegriffen. Die Kaffeetassen – gläser wurden zerstört, die Menschen, die sich dor befanden, geschlagen mit dem religiösen Motiv, weil Kaffee den Augen und dem Magen schade und „das Gehirn trübe, und den Menschen vom Glauben abbringe, sagten, er sei ein fränkisches Gift und der Prophet Mohammed habe den Kaffee, obwohl er ihm vom Teufel in der Gestalt einer schönen Frau dargeboten wurde, zurückgewiesen.“( S. 469)
Der Aberglaube, die Armut, und der Analphabetismus sind unausweichliche Folgen eines solchen Regimes. Anstatt den Wohlstand der Bürger zu steigern, und sich für ihre Aufklärung einzusetzen, beschäftigten sich die Herrscher und die Künstler mit den Sanktionen, um die Bürger zum Schweigen zu bringen. Nur die Prediger profitierten vom Glauben. Daher wuβten die Bürger nicht, was zu tun war; sie waren von der Wirklichkeit, vom Ernst des Lebens abgewandt. „Sie laufen zum Friedhof, flehen die Toten an und erhoffen sich Beistand von ihnen, sie laufen zu den Türben und beten wie Götzendiener den Stein an, hängen Fetzen auf, geloben dies und das.“( S. 23)
Schlussfolgerungen
Es geht in diesem Werk um den Versuch, die Ratlosigkeit der Maler in der osmanischen Zeit und die Kämpfe der Herrscher, die darauf zielten, ihre Macht zu verteidigen, vor die Augen des Lesers zu führen, und dass die Künstler von den Herrshern auf brutale Art in die Zange genommen wurden, um ihren Schaffenssprozess zu beinflussen. Die Herrscher wollten den Künstlern ihre normative Kunstvorstellung aufzwingen. Die Herrscher legitimierten sich als Stellvertreter der göttlichen Macht. Pamuk versucht darauf hinzuweisen, dass die Religion in den Händen der Herrscher nicht Gott, sondern ihrem Machterhalt diente und dass die Unterwerfung und Kontrolle der Lebensbereiche der Künstler und diese restriktiven Maβnahmen ein Informationsystem im Gang gehalten haben, die für ihre Macht unabdingbar waren.
Pamuk wendet sich dem religiösen und dem künstlerischen Erlebnis zu, um für die Religion, die in der erzählten Zeit zur Verkrüppelung der Herrscher degradiert war, eine friedlichere Lösung zu finden. Die Herrscher haben viele Verse aus dem Koran zitiert, um die Künstler für ihr Regime zu gewinnen. Pamuk versucht auch durch einen Vers aus dem Koran, der diesem Roman als Motto dient, nämlich: „Nicht gleichen sich der Blinde und der Sehende“(S. 385) zur Diskussion zu stellen, dass die Herrscher Verse aus dem Koran missinterpretiert hatten. Die Künstler im osmanischen Reich sollten ihre Werke so schaffen, wie Allah die Dinge sehe. Aber eigentlich wollten die Herrscher die Dinge so sehen, dass die Künstler ihnen in ihren Werken als ihr Sprachrohr dienen sollten, damit ihre Macht reibungslos funktionieren konnte. Die Künstler brauchten nicht zu sehen, um ein Künstler zu werden, weil sie aus dem Gedächtnis malen konnten. „Blinde“ Künstler waren für ihr Regime tauglich. Die Künstler konnten nicht einmal gestehen, zu „sehen“. „Sehen“ bedeutet auch eine Antwort auf das „Gesehene“, nämlich dem „Gesehenen“ künstlerischen Ausdruck zu geben, das „Gesehene“ frei, kreativ und kritisch zu bearbeiten. „Sehen“ bedeutet in diesem Sinne auch, herrschende katastrophale Zustände in einem Zusammenhang mit den Herrschern zu betrachten.
Pamuk begreift künstlerisches Schaffen als schöpferische Tätigkeit, d.h. als eine Antwort auf existierende Umstände. Die Künstler im osmanischen Reich hatten die Kunst zum Propagandamittel erniedrigt. Indem sie die Aufträge der Herrscher erfüllt haben, haben sie auch die Kunst als eine Tätigkeit betrachtet, die dazu beitrug, den Herrschern zum Sieg über die Ungläubigen zu verhelfen. Die Künstler, die im Dienst der Sultane waren, sollten ihre ihre Werke nur für sich schaffen, nicht für Ruhm, für Geld und für Ansehen: “All diese Ehrlosen sind es wert, gefoltert zu werden! Wir, die Illustratoren, verdienen uns das Paradies nur dann, wenn wir zuerst unserem Talent und unserer Kunst als Untertanen dienen, und nicht dem Padischah, der uns Arbeit gibt. Nun möchte ich dieses Buch für mich allein betrachten. „ (S. 449)
Pamuk sieht zwischen den Religionen ein dialogisches Verhältnis. Er als Schriftsteller leistet seinen Beitrag zu einer Kultur des Friedens, und vertritt die Meinung, dass religiöse Deutungen auf Gewaltanwendung zu verzichten haben. Religiöse Deutung sollte als ein rein privates Anliegen bleiben. Und sie sollte nicht unbedingt als ein Zeichen interpretiert werden, das zum Sieg über die Andersgäubige führt, sondern auch als eine Möglichkeit einer Erneuerung religiösen Erlebnisses. Es gilt, individualistische Interpretationen zu gestatten, die von der Sorge um ein besseres Lebens ausgeprägt sind, und deren Ziel es ist, dem Bedürfnis nach einem toleranteren Leben zwischen den Religionen gerecht zu werden und die Religion, die den Kampf gegen die Andersgläubiger vorsieht und die Zerstörung anderer Religionen unbedingt mit dem religiösen Erlebnis verknüpft, von diesen endgültigen Interpretationen zu befreien.
Durch diesen Roman gelingt Pamuk ein "positives“ Verhältnis zur Religion und zum Leben aufzubauen. Nicht durch den Kampf gegen die Andersgläubigen, sondern durch die innere Reife kann Gott erlebt werden. Der Weg zu Gott führt nicht, indem der Mensch andere besiegt, sondern indem er den Weg zu sich findet, indem er göttliche Erfahrung durch individuelles Schaffen und durch seine Kommunikation zu den anderen Menschen anderer Religionen die Gröβe Gottes zu verwirklichen sucht. Eine individuelle, gesuchte und selbstgefundene Gottesauffassung, die sich unbedingt von den Zwängen, Ritualen und rituellen Gebote und Gebete der etablierten differenziert zu werden braucht. Pamuk betrachtet die Religion nicht wie die Sultane als Mittel der Überlegenheit über die Ungläubigen, sondern die Liebe zu Allah bedeutet für ihn „die Liebe zur Welt“ (vgl. S. 424) d.h zum Leben. Keine zerstörerische Kraft, die Feinde zu unterwerfen, in den Kriegen die Ungläubigen zu besiegen. Die Religion sollte zu einer interkulturellen Verständigung beitragen, weil Gott „im Westen und Osten“ ist und nicht nur „im Osten“. Daher sollten die Künstler versuchen, zerstörerischen Kräften Einhalt zu gebieten, und die Suche nach einem Zusammenleben mit den Menschen anderer Religionen fördern, um existentiellen Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden.
Es ist auch Pamuks Wunsch, den Menschen in den Mittelpunkt des Bildes (vgl. S. 150) zu bringen. Im osmanischen Reich sind aber die Menschen aus den Bildern verdrängt worden, weil die Herrscher meinten, im Mittelpunkt solle Allah stehen. (vgl. S.390) In diesem Roman appelliert er an die Willenskraft des Lesers, an der Gestaltung einer künftigen auf interkulturellen Verständigung basierenden Welt mitzuarbeiten. Dafür ist es aber eine andere Wirklichkeitswahrnehmung erforderlich als die den Menschen aufgezwungene, in der Unveränderung begriffene. Es ist aber höchste Aufgabe der Künstler, eine durch menschliche Arbeit veränderbare Welt zu entwerfen, was damaligen Künstlern nicht gelungen ist, die Sanktionen der Herrscher zu überwinden, und ihre schöpferischen Kräfte zur Geltung zu bringen, gelingt dem zeitgenössichen Autor, die Lösung für die aus den Fugen geratene Welt zu entwerfen und sie in ihrer Ganzheit erfassen zu können und die Vergangenheit mit der gegenwärtigen Situation in Verbindung zu bringen. Er macht die Gefahr namentlich, decodiert die Umstände, die zu fatalen und verheerenden Folgen geführt haben. Die künstlerische Entfaltung hemmenden Umstände werden beschrieben, um deren Wiederkehr zu vermeiden.
Literatur
Orhan Pamuk: “Rot ist mein Name” Ubersetzt von Ingrid Iren. Wien 2001
Christoph Bartmann: “Nicht gleichen sich der Sehende und der Blinde” in: Süddeutsche Zeitung 25.09.2001
Hans-Peter Kunisch: „ Die Morde der Maler und die schöne Seküre. Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk erzählt von der Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident.“in: ZEIT 50/2001
Verena Mayer: “Das Pferd weiß, wie der Hase läuft” in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.12.2001, 10.11.2001
Ernst Osterkamp: “Vom Himmel durch die Welt zur Hölle”in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2001
Interview mit Orhan Pamuk
Achte auf die Details des Lebens
Jörg Lau in: DIE ZEIT 14.04.2005 Nr.16
Das Gespräch mit Orhan Pamuk. Autoren: Dieter Bednarz und Annette Großbongardt.
"Mich treibt niemand ins Exil" in: DER SPIEGEL 18/2007 vom 30.04.2007, Seite 178
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