Lesen als Weg zum Humanen
Lesen als Weg zum Humanen
In der Neuzeit wird der Text im weitesten Sinne erfasst; er wird nicht nur als literarischer Text verstanden, sondern auch die Welt, die analog dem Text entziffert und erschlossen werden kann, gehört zu dem Textbegriff. Um diese Reichweite bzw. Unbegrenzheit des Textbegriffs formulieren zu können, kann hier Jacques Derrida angeführt werden:
„Das, was ich also Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heisst, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt.(...) der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt, im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text, in diesem neuen Sinne. (...) Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung.“[1]
Es geht nicht nur darum, die Bücher, sondern auch die Welt, das Leben, und die Umstände zu lesen. Welche praktischen Konsequenzen sich daraus fürs Leben ergeben, es vom Buch-Lesen zum Welt- und Lebenlesen zu bringen, ist schon unübertrefflich von Schopenhauer zum Ausdruck gebracht worden:
„Die Gelehrten sind Die, welche in den Büchern gelesen haben ; die Denker, die Genies, die Welterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts sind aber Die, welche unmittelbar im Buch der Welt gelesen haben.“[2]
Diese Aussage begreift die Welt als einen Text, den zu entziffern dem Leser zufällt. Dieser Grundgedanke liegt auch im Zentrum der Köpfschen „Vergegenkunft“. Die Bedeutung des Lesers spielt dort eine zentrale Rolle, da Köpf den Menschen mit der Entstehung der gegebenen Unvernunft, deren Überwindung er in den Mittelpunkt seiner Poetik stellt, eng verbunden sieht. Der Schriftsteller, der Leser, und das literarische Werk bilden den Mittelpunkt der Köpfschen Poetik, wo er die Überwindung inhumaner Verhältnisse zum zentralen Thema der „Vergegenkunft“ erhebt. Daraus lässt sich die Konsequenz ziehen, dass die Überwindung der Unvernunft durch Zusammenarbeit und Mitwirkung des Lesers und des Schriftstellers gelingen kann. In diesem Sinne wird der Leser bei Köpf als diejenige Instanz begriffen, durch die die Verwandlung gesellschaftlich- politischer Umstände hervorgebracht werden kann. Sein Ausgangspunkt ist die hermeneutische Theorie,[3] in der der Autor, der Leser und das literarische Kunstwerk aufeinander angewiesen sind. Der Leser ist in diesen Kettenreaktionen ein wichtiger und kein passiver Bestandteil, weil von der Existenz eines Schriftstellers sowie eines literarischen Werkes erst gesprochen werden kann, wenn der Schriftsteller und das Werk von den Lesern rezipiert werden. Aus diesen dialogischen und dialektischen Beziehungen der hermeneutischen Theorie [4] entwickelt Köpf seine Poetik. Er erhebt den Autor, das Werk und den Leser nicht nur zum Mittelpunkt seiner Poetik, sondern auch zu den wichtigsten Trägern einer humaneren Welt und erklärt dieses Dreieck zum Ausgangspunkt und zu den allerwichtigsten Prinzipien eines menschenwürdigeren, humaneren Lebens, universaler Verständigung, durch die die gegenwärtige Bedrohung, in der die Menschheit hockt, überwunden werden kann bzw. könnte.
In Bezug auf die Überwindung der Unvernunft und die Förderung der Humanität haben die Leser eine ebenbürtige Verantwortung und keine geringere als die des Schriftstellers. Der Leser ist der Bürger, im weitesten Sinne der Mensch überhaupt. Der Bürger ist aber der Citoyen, der sich mit den gegebenen Umständen auseinandersetzt, und der Citoyen ist nicht der Bürger der Prototyp in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern derjenige, der “aus der verordneten Mittelmäßigkeit auszubrechen” (dG, 14) versucht und sich den republikanischen Ideen verpflichtet fühlt. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass der Widerstand gegen die Unvernunft dann erfolgen kann, wenn der Leser bzw. der Bürger oder der Mensch in diesen politischen Kampf miteinbezogen wird. Er erhöht den Leser auf das Niveau des Schriftstellers. Für Köpf gibt es keinen Unterschied zwischen dem Leser und dem Schriftsteller. Die Schriftsteller sind eben ihre eigenen Leser: „Ein Autor ist als Schöpfer zuerst immer auch Leser.“ (MaT,16) Im Anschluss an Novalis vertritt Köpf die These, dass der Leser ein Koautor ist, indem er die Aufgabe übernimmt, das literarische Werk des Schriftstellers zu vollenden, und zu ihrer Entstehung beizutragen: „ Nach Novalis ist der ‚wahre Leser’ ein ‚erweiternder Autor’“(dG, 19)
Die Ununterscheidbarkeit zwischen Leser und Autor gilt auch für beide Haupttätigkeiten, nämlich fürs Lesen und Schreiben. Beide sind für Köpf keine getrennten Tätigkeiten, sondern sie gehören zusammen: „Lesen und Schreiben sind zwei Seiten einer Münze.“ (LdN, 184) In Anlehnung an Luis Borges betont Köpf, dass das Lesen vor dem Schreiben Vorrang hat: „Borges hat einmal gesagt: ‚Mögen andere sich mit den Seiten brüsten, die sie geschrieben haben; mich machen die stolz, die ich gelesen habe.’ “ (LdN, 186) Die Aufwertung des Lesens hat mit der Tatsache zu tun, dass Lesen eine unverzichtbare und unersetzbare Tätigkeit ist sowohl für das Schreiben als auch für das Leben. Köpfs Aussage, dass es zwischen dem Lesen und Schreiben keinen Unterschied gibt und die Schriftsteller auch Leser sind, ist als ein Appell an den Leser zu interpretieren, es von der Leserschaft zur Autorschaft zu bringen. Dass Köpf durch diese Aussage ihn auf die Stufe des Schriftstellers erhebt und den Leser zur Mitautorschaft einlädt, hat weitreichende Konsequenzen für den Leser. Durch die Gleichstellung mit dem Schriftsteller nimmt der Leser eine für ihn schwer erfüllbare Verantwortung auf sich, Schriftsteller bzw. Künstler zu werden, und konsequent an dem Projekt des Autors mitzuwirken. Der Leser wird ein gleichberechtigter Partner des Autors. Er wird genauso wie der Schriftsteller mitverantwortlich für die Verwirklichung dieses Projekts, indem er sich auf diese Partnerschaft, bzw. Mitautorschaft einlässt. Aus dem Leser wird ein Komplize des Autors. Durch diese Partnerschaft erklärt er sich bereit, das gemeinsame Vorhaben mit dem Autor zum Leben zu erwecken. In Köpfs Poetik trägt der Leser nicht nur zur Vollendung des literarischen Werks des Autors bei, sondern beteiligt sich dadurch auch an dem Werk, gemeint ist nicht nur das von dem Autor entworfene, literarische Werk, sondern auch das Werk, nämlich das Vorhaben des Autors, die Humanität an die Macht zu bringen, was aber nur durch die Mitwirkung des Lesers, des Bürgers oder des Menschen überhaupt entstehen kann.
Die Gleichstellung des Lesers mit dem Schriftsteller hängt mit seiner Festellung zusammen, dass es zwischen der herrschenden Dummheit und den Handlungen der Menschen ein dialektisches Verhältnis gibt. Die Dummehit existiert an und für sich nicht, sondern bekommt ihre Gestalt erst durch die Einstellungen der Menschen, der Bürger. Nach Köpf sind es die Bürger, die Hitler zur Macht verholfen haben, indem sie sich mit den Verheissungen dieser Ideologie identifiziert, indem sie ihrem privaten Glück nachgejagt und gegen dieses Regime keinen Widerstand geleistet haben:
“Kleinbürgertum ist also keine Kategorie des Einkommens, sondern eine der Bewußtseinshaltung gegenüber historischen Vorgängen und gegenüber der Durchsetzbarkeit privaten Glücks und der privaten Glücksvorstellungen, die ausgeht von den jeweils beschränkten eigenen Mitteln und diese zu kombinieren versucht mit den großen Illusionswolken, die die Geschichtsmächtigen an den Kulissenhimmel zaubern, auf den viele unserer Bürger in Vergangenheit und Gegenwart zumarschiert sind und sich da im Faschismus als Apotheose des Kleinbürgertums am gewaltigsten und am blutigsten verrannt haben.“ [5]
Wie ersichtlich, gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Haltungen der Menschen und den herrschenden Umständen. Der Mensch kann sich aus der Verantwortung nicht herauslösen, gegen diese inhumane Welt zu kämpfen. Die Auffassung, wonach die Welt und das Leben als menschliches Werk begriffen wird, stellt den Menschen vor die Aufgabe, bei der Gestaltung seines Lebens und der Welt die Verantwortung auf sich zu nehmen und sich auf einen schöpferischen Prozess zu begeben. Bei der Köpfschen „Vergegenkunft“ fühlt sich der Mensch mit der selbstauferlegten Aufgabe verpflichtet, sich und die Welt neu zu erfinden: „Wer dazu verflucht ist, die Welt immer wieder neu zu erfinden“ (DB, 162) Diese Aufgabe auf sich zu nehmen, ist nicht nur den Schriftstellern, den Künstlern, den Intellektuellen, den Akademikern vorbehalten, sondern es kommt auch auf die Bürger an, die in dieser Gesellschaft leben. Die Bürger haben sich mit der ihnen im gesellschaftlichen Leben zugeschnittenen Rolle auseinanderzusetzen, da die Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse die rigorose Unvernunft zu bejahen bedeutet. Widerstand zu leisten, ist das wichtigste Kriterium des Lebens überhaupt. Seine Maxime lautet : “Wer lebt, stellt sich ein.” (IS, 39) Der Mensch unterwirft sich keiner Macht, sondern verwirklicht sein eigenes Ich. Das ist äußerst wichtig für alle Figuren : “ Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom!“ (N, 86)
Für Köpf ist der Mensch ein aktiver ebenso kreativer Bürger, der die Inhumanität zu bekämpfen und die Humanität zu etablieren hat. Er setzt sich mit den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen auseinander: “ Das Mass des Bürgers enthält in sich den Freibrief, es zu sprengen und ein neues zu setzen.“( dG, 14) Der Schriftsteller ist auf der Seite der Bürger: „Ja, ich bin ja ein bürgerlicher Schriftsteller, und der Roman ist eine bürgerliche Kunstform.“[6] Köpf thematisiert sowohl in seinen theoretischen Aufsätzen, seinen Essays als auch in seinen fiktionalen Texten die „verkehrte“ Welt, und unter welchen Umständen diese inhumane Welt entstanden ist. Er versucht seine Poetik so aufzubauen, dass sie der Überwindung dieser inhumanen Welt dient. Der Held ist bei Köpf ebenso der Leser: „meine Helden sind keine Drachentöter, sondern der Held ist, sofern es ihn überhaupt gibt, immer der Leser.“ (MvL, 184)
Der Leser hat schriftstellerische Attribute zu erwerben, um bei diesem Kampf aktiv mitzuwirken; da das Bestehende den Eingriff des Lesers, nämlich seinen Widerstand erfordert, misst Köpf dem Leser eher eine aktive als eine zusehende Rolle bei. Der Leser hat auch an dem Vorhaben des Schriftstellers, dem Schaffensprozess teil; er ist ein Komplize des Autors. „Ich will meinem Leser nichts erklären, weil ich ihn damit in eine passive Rolle versetzen würde. Ich will meine Geschichte nur Stück für Stück preisgeben und meinen Leser zu meinem Mitspieler machen.“(VdW, 86)
Der Autor hat keine willkürliche Freiheit, den Leser zu irgendeiner Entscheidung zu zwingen. Nicht einmal gegenüber den Figuren, die er in seinen Werken schafft, verfügt er über diese willkürliche Freiheit, sie beliebige Taten begehen zu lassen. So Köpf über Unamuno: „Was erdreistete sich da eine ausgedachte Figur, sich gegen ihre Schöpfer zu erheben? (...) als ich den Roman ‚Nebel’ von Miguel de Unamuno las. Darin erwägt der Romanheld Augusto Pérez, sich das Leben zu nehmen. In seiner Verzweiflung beschließt er, nach Salamanca zu fahren und Miguel de Unamuno um Rat zu fragen. Die Romanfigur verläßt die Ebene des Fiktiven und wendet sich an ihren Schöpfer. Es kommt zu einer erregten Auseinandersetzung über das Recht des Autors, seine Figur Selbstmord begehen zu lassen. Wie es sein Recht gewesen sei, ihn in die Welt zu rufen, so könne er ihn auch wieder aus ihr abberufen.“ (IS, 38-39)
Der Leser nimmt die Verantwortung, die ihm weder der Schriftsteller noch irgendeine andere Instanz aufzwingen kann, für seine Beziehungen zum eigenen Leben und zur Welt freiwillig auf sich. Zwar versucht der Autor, den Leser für sein Projekt zu gewinnen, aber die Entscheidung wird ihm überlassen: „An den Leser zu denken, heißt freilich auch nicht, als Schriftsteller den Lesern vorschreiben zu wollen, was sie lesen und gut finden sollen.“ (MaT, 19) Aus freiem Entschluss stellt er sich der Unvernunft. Er wird nicht dazu gezwungen; die Verantwortung als Mensch erlegt ihm eine solche Aufgabe auf.
Köpf schreibt für Leser, die lesende Minderheit, damit sie an seinem Aufklärungsprozess teilnimmt. Er begreift den Leser im Zusammenhang seiner politischen Freiheit, seiner politischen Mitwirkung und seines Beitrages zur Förderung der Humanität und zur Überwindung der Unvernunft. „Es gibt sie immer noch: die einst von Schiller beschworene republikanische Freiheit des lesenden Publikums! Und ich bin einer ihrer leidenschaftlichen Verfechter.“ (MaT, 20) Als Schriftsteller kämpft er mit dem Leser gegen die Unvernunft an der selben Front. Unter diesen Verhältnissen ist der politisch engagierte Schriftsteller und Bürger gefragt: „(....) es geht ums Mit- und ums Dreinreden: als Bürger und als Zeitgenosse.“(SuN, 104)
Dem Leser fällt die Aufgabe zu, die vom Autor entworfene Welt hervorzubringen. Er wird auch wie der Schriftsteller mit der Verantwortung beauftragt, den toten Buchstaben Leben zu verleihen. Lesen verlässt den gewöhnlichen Sinn und wird als ein Prozess begriffen, bei dem es nicht nur um Bücher-Lesen geht, sondern vielmehr darum, die Geheimnisse der Welt und des Lebens zu entdecken, und die Gründe, die zur Unvernunft führen, zu entziffern, um sie dadurch, zu bekämpfen: „Ein guter Leser strebt nicht danach, die Bewegungen eines Textes bloß durchzuschauen, sondern er will sie vielmehr mitvollziehen. Das kann er nur, wenn er sich auf dieses Gespinst einlässt, denn Poesie macht stellvertretend etwas vor, das erst voll zur Entfaltung kommt, wenn wir mitmachen.“ (EwB, 86)
Der Lesevorgang ist es, der den Leser auf den Widerstand vorbereitet. Köpf betont in Anlehnung an Skármeta, dass es sowohl bei der Entstehung literarischer Werke als auch bei der Förderung schöpferischer Gedanken nur auf den Lesevorgang ankommt, dass er den Anstoß zum Schreiben gibt und dass das Lesen vor dem Schreiben die Priorität hat. Es ist auch dem Lesevorgang zu verdanken, dass die Literatur entsteht und der Schaffensprozess in Gang tritt. Der Lesevorgang erfüllt das Leben des Schriftstellers; er liest, und das bewegt ihn zum Schreiben, so Skármeta: „Der Leser und ich teilen eine flüchtige Erfahrung in einer kurzlebigen, beschleunigten und leider gewalttätigen Welt. In diesem kurzen Moment liegt für mich das ganze Phänomen der Literatur. Das ist meine Welt, meine Haltung, mein Schaffenskonzept.”[7]
Doch Köpf erklärt diesen Vorgang, nämlich Lesen–Anreger und Anfang der schriftstellerischen Tätigkeit, nicht nur zu dem wichtigsten Prozess des schriftstellerischen Lebens, sondern er erhebt das Lesen auch zu der bedeutendsten und unabdingbarsten Tätigkeit eines humaneren und menschenwürdigeren Lebens auf der Erde überhaupt. Es ist eine Beschäftigung, durch die man seiner Stellung auf der Welt bewusst werden und sich Orientierung im Leben verschaffen kann: „Lesen hieß für mich den Fisch an Land ziehen. Es erklärte mir die Welt und meinen Platz in ihr, es ließ mich schwarz auf weiß teilhaben an etwas, von dem ich wusste, dass es auf geheimnisvolle Weise unmittelbar mit mir selbst zu tun hatte. In den Büchern brachte ich jenes Leben unter, das ich selbst gerne gelebt hätte.“( MaT, 15)
Dem Leser wird nicht alles vermittelt, sondern ein Teil dieser „möglichen“ Welt entworfen. Er ist in einer ständigen Suche nach Verknüpfungspunkten zwischen dem Text und dem Leben. Ihm gilt es, den Text neuzuschöpfen und neuzuschaffen, wie er es in Bezug auf Ernest Hemingway ausdrückt: „Auf jeden sichtbaren Teil kommen sieben Achtel, die sich unter Wasser befinden, ist mehr als ein Bonmot. Dass es eben auf diese sieben Achtel ankommt, dass sie die Stärke des Eisbergs ausmachen und dass es darum geht, dem Leser ihr Vorhandensein zu suggerieren, ohne sich auf subalterne Beschreibungen einzulassen - darauf wollte er aufmerksam machen.“ (HM, 63)
Der Lesevorgang wird bei Köpf dem Leben gleichgesetzt; denn es bekommt seinen Sinn durch das Lesen. Er will zwischen dem Leben – dem Erlebten – und dem Lesen nicht unterscheiden: „(...) und das Gelesene gehört genauso zu seiner Lebenserfahrung wie das Kauen von Käse.“ (MaT, 31) Unter Lesen versteht er weder Unterhaltung, noch Ablenkung von der Realität, sondern eine Tätigkeit, durch deren Vollzug er mit der eigenen Wirklichkeit konfrontiert werden und dadurch sie erschaffen kann: „Das Schreiben und das Erzählen müssten als Formen von Diagnose und Realitätsprüfung, nicht als Therapie des bedürftigen Ich, praktiziert werden.“[8] Das Lesen ist keine Tätigkeit, die der Entlastung des Ich dient, sondern eine, die ihm Antworten auf die drängenden Fragen des Lebens vermittelt: „Lesen ist mehr als ein bloßes Zurkenntnisnehmen, es ist Antwort und Entgegnung und damit Potenzierung der Fiktion.“ (dG, 19) Bei dem Lesen geht es auch nicht um Wissensanhäufung, sondern um Erwerb poetischen Wissens, das die Dinge nicht als isoliert, sondern in der Verbindung mit dem Ganzen wahrzunehmen dient.
Die durch den Lesevorgang erzeugte Wahrnehmung erlaubt es, die Dinge in einer anderen, „poetischen“ Ordnung wahrzunehmen und mit der eigenen Wirklichkeit konfrontiert zu werden. Durch das Lesen wird die empirisch wahrgenommene Wirklichkeit aufgehoben. Während der Lektüre wird hinterfragt, wo was für normal, wirklich, real, vernünftig, ordentlich gehalten wird. Die mit Hilfe der bei dem Lesevorgang gewonnenen Lektüre ermöglicht einem, die Werte dieser verkehrten Welt in Frage zu stellen: „Die Glocken sind im Keller, / Kartoffeln auf dem Turm;/ Der Tisch steht auf dem Teller, / Und Hühner frisst der Wurm.“ (IS, 29)
Bestehende Denkgewohnheiten werden durch den Leseprozess nicht reproduziert, sondern aufgebrochen. Der Leser befreit sich und gelangt zu einer neuen Wahrnehmung der Welt, die , um es mit Iser zu formulieren,: „Eingriffe in die Welt, in herrschende Sozialstrukturen”[9] ermöglicht. Durch diese beim Lesevorgang erworbene Erkenntnis verliert die empirisch wahrgenommene Welt ihre Anziehungskraft. Ihr stellt Köpf die Welt der Bücher entgegen. Durch das Gelesene wird die empirische Welt als eine bedrohte, die Welt der Bücher dagegen als eine heile, alternative Lebenswelt wahrgenommen, es erlaubt dem Leser, eine andere mögliche und zu verwirklichende Lebenswelt wahrzunehmen. Durchs Lesen wird die herrschende, erstarrte Wirklichkeit, in die man hineingeboren ist, durchbrochen, indem Einsicht in die alternativen, möglichen Lebenswelten vermittelt wird. Das Lesen ist eine nichtlineare Tätigkeit, da man durch das Lesen geographische und zeitliche Grenzen überschreiten und dadurch die Dinge aus anderen Perspektiven wahrnehmen kann: „Als Kind habe ich mir dabei vorgestellt, welche Reisen ich unternehmen könnte. Auch nach Alaska oder Australien: mit dem Finger auf der Landkarte. Die schönsten Reisen mache ich immer vom Fenster aus. Übersicht ist freilich eine verlorengegangene Errungenschaft.“ (H, 117)
Das lineare Denken, das Köpf als Ursache der bestehenden Umstände betrachtet, kann in einem nichtlinearen Lesen überwunden werden, indem der Leser die Kapitel eines Romans nicht der Reihe nach liest. Um der dem Menschen aufgezwungenen offiziellen Ideologie zu entkommen und die isolierende und beschränkte Perspektive, der er dadurch ausgesetzt wird, zu überwinden, schlägt Köpf ein nichtlineares Lesen vor, das zu einem nichtlinearen Lesen der Welt führt, da das lineare Denken unausweichlich zu einem linearen Verhalten führt, bei dem sich der Mensch für seine Handlung in Bezug auf herrschende Umstände nicht verantwortlich betrachtet und das Bestehende durch seine alltäglichen Handlungen reproduziert:
„Also am Ende von Kapitel neun lies Kapitel drei, nach drei hundertzehn. Das ist eine offene Form des Lesens, (....) eine nichtlineare. Und da setzt auch meine Kritik an dem ministeriell verordneten Lektürekonzept an, das überall Linearitäten suggeriert. Entwicklungslinien, bei denen man sagt: Du steigst beim Barock ein und hörst bei Thomas Mann auf. (...) Mir käme es viel stärker darauf an, ganz divergierende und ganz unterschiedliche Textreihen zu bauen (...) “[10]
Durch das Lesen wird Einsicht in andere möglichen Welten vermittelt: „Es geht beim Lesen um nichts anderes als um Möglichkeiten. Vergiß das nie! Nichts anderes bieten dir die Bücher an als Möglichkeiten. Die Bücher weisen dir den blauen Weg. Der bIaue Weg ist der Weg des Möglichen. Du mußt das herausfinden, was zwischen den Zeilen nistet.“ (MaT, 14) Das Lesen verschafft auch Orientierung, Bedeutung im Leben und die Erkenntnis angemessenen Handelns auf die gesellschaftlich- politischen Verhältnisse: „ Nicht hinter Max Frisch zurück führt der Weg, sondern darüber hinaus in Richtung auf ein Ich und Wirklichkeit zusammenfügendes, produktives und doch auch politisches Lesen.“[11]
Die Lektüre ist die treibende Kraft im Leben. Erst durch sie wird das Leben bereichert. Köpf ist davon überzeugt, dass die Antworten auf die Lebensfragen durch das Lesen und Wiederlesen gefunden werden können:
„Also ein Lese- und Lernprogramm, wenn man so etwas überhaupt im Sinne eines Programms entwickeln kann, hätte man nach meiner Vorstellung sehr viel mit dem Lesen und dem Wiederlesen zu tun. Dass a1so über die Lektüre Lektüre erst möglich wird, dass das Lesen die Einstiegsdroge für das Neu- und Weiterlesen wird. Und dass auf diese Weise ein Leserbewusstsein entsteht, das überall nach den Verknüpfungsformen sucht,(...)“ [12]
Keine andere Tätigkeit erfüllt das Leben wie Lesen, da der Leser in diesem Prozess sein Selbst realisieren kann, und er sich durch diesen Prozess bereichert fühlt: Der Lesevorgang ist aktiv und schöpferisch zugleich; indem der Leser die Beziehungen miteinander verknüpft, wird er mit einem schöpferischen Prozess konfrontiert. Das hat auch Folgen auf sein Leben, denn im Lesevorgang liest er nicht nur den Text, sondern er schafft den Text neu, erfindet die Welt in anderen Beziehungen. Indem er eine humanere Welt reflektiert erlebt, gelangt der Leser durch diesen Prozess zur Selbstentfaltung und -verwirklichung: “Die besten und wertvollsten Erfahrungen machte ich lesend, weil ich meine Phantasie dabei ausbildete. Lesen war ein Gespräch mit mir selbst. Gewissenserforschung, Beichte und Absolution in einem.(...)“ (MaT, 15)
Lesen bleibt nicht wirkungslos im Leben, sondern das Leben wird durch das Gelesene gestaltet, indem der Leser bei Gelegenheit die in Büchern erfahrenen Orte besucht. Beim Autor Köpf sind Lesen und Leben aufeinander angewiesen: „Und je öfter ich die wunderbare Gelegenheit habe, God‘s Own Country zu bereisen, desto vertrauter werden mir die Schauplätze (...)Immer lasse ich mich auf meinen Reisen weniger von den lnterstates und Highways der Straßenkarte als von den Wegweisern auf der Landkarte der Literatur leiten. So bin ich stets als Leser durch Nordamerika gereist. Und immer wieder ist mir dabei, als holte ich erst jetzt nach, was ich mir als Kind und als Jugendlicher aus den Büchern herausgeträumt und als Lebens- und Schreibziel vorgenommen habe.“ (MaT, 16) Dies ist auf die Kraft der bei dem Lesevorgang erfahrenen Lektüre zurückzuführen, die die Zeiten, die Räume miteinander verbindet und ihre Geheimnisse aufdeckt und dadurch gleichzeitig auch die Verwandlung des Ich ermöglicht. Die Lektüre ist ein Vorgang, in dem man die beste Unterhaltung geniesst und nicht nur das Buch liest, sondern auch einen Hauch sowohl von dem eigenen Leben als auch von der Welt vermittelt bekommt. „Damals aber wusste ich nichts von der Lektüre und der Lust, dabei zu sein: Als Mitspinner und als Hineinverwobener. Damals ahnte ich noch nicht, dass es nicht darum geht, die Bewegung eines Textes zu duchschauen, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, seine Bewegungen mitzuvollziehen: weil Literatur stellvertretend etwas vormacht, und weil sie ihre Kraft erst entfaltet, wenn wir mitmachen.“ (IS, 41)
Die bei dem Lesevorgang gewonnenene Lektüre ist Köpf wichtig, da in dem Lesen die wahrste Kommunikation erlebt wird: nämlich das Selbstgespäch, indem er genießt und sich mit Erkenntnis ausstattet. Selbstrealisierung wird im Konzept der Humanität erreicht und nicht der empirischen Welt. Das verlangt von den Menschen ein individuelles Leben, das insofern als erfüllt gilt, wenn es zur Enfaltung einer humaneren Gemeinschaft seinen persönlichen Beitrag leistet. Es geht Köpf nicht um Selbstfindung, um ein individuelles Leben abseits gesellschaftlichen Lebens, sondern es geht ihm um die Selbstentfaltung, die nur im gesellschaftlichen Leben gelingen kann, d.h. in dem komplexen gesellschaftlichen, politischen Prozess, die Entfaltung einer humaneren Welt in Gang zu bringen und ihre Entstehung zu beinflussen. „Nein, nicht um die sogenannte Selbstfindung war es mir gegangen, wie man das heutzutage ausdrückt, denn nach all meinen Erfahrungen bin ich jetzt davon überzeugt, dass die sogenannte Selbstfindung ein psychologischer Quatsch ist. Mir ging es um den unendlichen, nicht abschließbaren Vorgang der Lektüre.“ (MaT, 15)
Als Idealleser betrachtet Köpf Don Quichotte[13], der das Gelesene in die Wirklichkeit zu überführen versucht. Um die Unvernunft zu bekämpfen, fällt jedem Leser, d.h jedem Bürger, die Don Quichottische Aufgabe zu, die in den Büchern dargestellte Welt zu realisieren. Es geht bei diesem Lesen nicht nur um Bücher-Lesen, sondern die Welt und sich selbst zu lesen. Bei diesem Lesen sind die Buchstaben nicht tot, sondern lebendiges Modell einer humaneren Welt. Wenn die Welt als eine bedrohte erscheint und eine humanere ihre Stelle ersetzen soll, muss die empirisch wahrgenommene Welt trotz aller Anziehungskraft abgelehnt werden und die humanere, die Welt der Bücher, ins Leben überführt werden.
Mitspieler des Autors zu sein, verlangt von dem Leser, den toten Buchstaben Leben einzuhauchen, den Unterschied zwischen dem Gelesenen und dem Erlebten sowie dem zu Erlebenden aufzuheben. Das literarische Werk kommt nicht nur durch Leser zur Enstehung, sondern der Leser sollte auch die in dem Kunstwerk erzählte Welt in seinem alltäglichen Leben realisieren. Das Erlebte bzw. das zu Erlebende sollte wie ein Kunstwerk gestaltet werden, in dem der Autor diese Welt erzählend erschafft; es ist die Aufgabe des Lesers, in seinen alltäglichen Handlungen das erzählte Werk zu verwirklichen. Da die bestehende Welt als verkehrte und die Welt der Bücher dagegen als heile gilt, erscheint als einzige Lösung: die Kluft zwischen der verkehrten und der heilen Welt aufzuheben. Da überkreuzen sich die Handlungen und das literarische Werk, so dass es zwischen dem Gelesenen und dem Leben keinen Unterschied geben soll, dass es dem Leser darauf ankommt, die Lektüre mit den Handlungen identisch zu machen, und das Gelesene in das Erlebte umzusetzen, oder anders ausgedrückt, aus seinen Handlungen ein Kunstwerk entstehen zu lassen: „Die Biographien von Menschen, die ihr Leben als ihr Werk ausgegeben hatten, faszinierten mich besonders.“ (MaT, 15) Der Leser vollendet nicht nur das literarische Werk, sondern er reproduziert auch dieses Kunstwerk, im doppelten Sinne, einmal beim Lesevorgang, zum zweitenmal, indem er dieses Werk nachlebt, er in seinen Handlungen diese „künstliche“ Welt wieder zum Leben erweckt, und dadurch an dem Projekt des Schriftstellers arbeitet.
Genau so wie ein Künstler oder wie der Schriftsteller an seinem Werk arbeitet, erlegt die Verwirklichung der Humanität dem Menschen eine solche Verantwortung auf, an seinem Leben zu arbeiten, dem eigenen Leben die Gestalt eines Kunstwerks zu geben. Nach Köpf ist das ist eine Aufgabe, die zu erfüllen eigentlich jeder Leser vepflichtet ist. Der Leser bleibt nicht bei Leseeindrücken, sondern ihm geht es dabei darum, auf die eigene Lebenswirklichkeit und öffentlichen Fragen einzugehen, bzw. das Gelesene mit sozialer Praxis in Verbindung zu bringen. Zwar erfordert Lesen ein einsames Leben, da es individuell vollzogen wird, aber der Mensch verwirklicht sein Selbst im gesellschaftlichen Konzept: „ So könnte geradezu die Sprengung der Ich – Verkapselung erreicht werden, denn die ist ja antirepublikanisch.“[14]
Die Figuren in Köpfs Werken betrachten sich als Auserwählte dazu berufen, das verbreitete Übel zu bekämpfen. Sie sind sich dessen bewusst, dass es an ihren Handlungen und Entscheidungen liegt, ob auf der Welt Unvernunft oder Humanität herrscht; Widerstand gegen die Unvernunft zu leisten, steht im Mittelpunkt seiner Poetik. Das gilt sowohl für den Schriftsteller als auch für die Leser. Auch von dem Leser erwartet Köpf Widerdstand. Was er aber hier unter dem Widerstand versteht, hängt auf keinen Fall mit politischen Mitteln zusammen, etwa Protestbewegungen gegen das existierende Regime oder den Staat, da dieser das Regime und den Staat legitimieren könnte und da auch diese von dem Regime blutig geschlagen werden könnten. Widerstand artikuliert sich aber auch nicht in irgendeiner organisierten Protestbewegung einer Partei gegen die herrschende Partei oder das Regime, da eine solche organisatorische Bewegung in Gewaltakten verwandelt werden könnte und dies die bestehende Unvernunft eher stabilisieren würde. Eine solche Auffassung hiesse, die Gründe, die zu der Unvernunft führen, zu verkennen. Widerstand artikuliert sich vielmehr in der Lebensführung im Alltag und in der Verrichtung der Arbeit. Der Widerstand kann nur durch alltägliche Handlungen gelingen; da es auf „jede“ Handlung ankommt und keine „einzige“ ohne Folgen auf herrschende Verhältnisse bleibt, braucht der Mensch keine grossen Taten zu vollziehen, um gegen inhumane Verhältnisse Widerstand zu leisten, sondern jedes alltägliches Handeln ist ein Versuch, eine Gelegenheit, die Unvernunft zu überwinden.
Köpf geht auch der Weltverwandlung auf den Grund. Die Selbstverwandlung vollzieht sich im gesellschaftlichen Kontext. Die Erschaffung seines eigenen Lebens geht mit der Wiederherstellung einer humaneren Welt einher. Die Förderung der Humanität kann nur durch Selbstverwandlung in der Alltagspraxis erfolgen. Welt- und Selbstverwandlung stehen in keinem Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig. Der Prozess der Ichverwandlung vollzieht sich bei dem Lesevorgang. Erst durch ihn gelangt der Leser zu der Vertiefung der Erkenntnis, die den Selbstverwandlungprozess leitet und beschleunigt. Der Lesevorgang ist Motor sowohl der Selbst- als auch der Weltverwandlung. Um das große Bild zu begreifen, hat man jede Handlung mit den politischen Umständen in Beziehung zu bringen. Ein Verhalten in einer Situation, in einem gegebenen Land, ist unmittelbar ein Teil des Unheils weltweiter Dimension. Die Bedeutung einer Handlung kann erst dann erschlossen werden, wenn sie mit den gegebenen Umständen in Beziehung gebracht wird. Die Unvernunft liegt in den menschlichen alltäglichen Handlungen verankert und sie wird von den Menschen durch jede Handlung aufs Neue wieder reproduziert. Der Mensch sieht sich bei Köpf mit der Aufgabe konfrontiert, sich und seine Welt neu zu lesen, was auch damit gleichkommt, sein Selbst und seine Welt zu erschaffen, da Lesen auch Neuschaffen und Neugestalten bedeutet: eine fast göttliche Aufgabe. (Vgl. dG, 19-20)
Auch ein Familienspaziergang steht in einem engen Zusammenhang mit den herrschenden politischen Machtverhältnissen; denn durch dieses alltägliche Verhalten kann die Familie zu der Entstehung der Unvernunft beitragen, indem sie sich gegen die bestehenden Verhältnisse keinen Widerstand geleistet hat: „Das Vorstadtidyll, eine junge Frau in einem bunten Kleid, ein kleines Mädchen, den Jungen, der mit seinem Vater spielt (wie?), sonnige Kleinbürgerlichkeit, Alltag, Normalität. Was aber sind wir, wenn wir sehen? “Das Auge der Welt” oder der blinde, taube, stumme, normale Nachbar, bequem eingerichtet.“(MLK, 28) Wenn man auf die Hintergründe genau achtet, sind Zusammenhänge zwischen den herrschenden Umständen und den menschlichen Einstellungen zu finden: „Hilfreicher ist schon die geduldig genaue Betrachtung einzelner Mosaiksteinchen. Jedes einzelne Zahnrad im Räderwerk hat Folgen, und eines greift ins andere. Der Blick aufs Ganze aber wiederum zeigt, dass dieses Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile.“[15]
Köpf hat in seiner Epik beschrieben, dass sogar eine harmlose Handlung die Unvernunft heraufbeschwören kann; in seiner Novelle “Borges gibt es nicht.”[16] weist das erzählende Ich auf die Mittäterschaft seiner Mutter hin. Sie war in einem Orden beschäftigt, ohne zu ahnen, dass dort Menschen systematisch getötet wurden. Sie schweigt, isst, trinkt, beobachtet die Natur, geniesst ihr Leben, denkt keinen Augenblick daran, in die Ereignisse einzugreifen, um den Mordakten ein Ende zu setzen: „Liebe Mutter, Du sitzt in Deinem Stuhl am Fenster in Deinem Stift. Weisst du, wo dein Stuhl steht, in welchen Mauern, mit welcher Aussicht? Dein Stift war nicht immer Stift. (...) Es war einmal ein Stift, das früher einmal eine Heil- und Pflegeanstalt, in der weder geheilt wurde noch gepflegt. Dort wurde getötet. Sogenanntes lebensunwertes Leben wurde dort getötet von frommen Ordensfrauen und braven Helferinnen, von Priestern abgesegnet, unter aller Augen. Auch du musst davon gewusst haben, Mutter.“ (B, 98)
Indem sich die Mutter dem Ereignis nicht stellt, arbeitet sie der Unvernunft zu und begünstigt die Mordakte in diesem Orden. Dieses Nichteingreifen bedeutet auch ein Handeln, das der Forsetzung der Inhumanität dient. Köpf setzt das Handeln in das Zentrum des Lebens überhaupt, da jedes Handeln oder Nichthandeln seine Folgen auf existierende Umstände hat. Es wird bei Köpf in dem Handeln und Nichthandeln entschieden, ob auf der Welt humane oder inhumane Verhältnisse herrschen. Die Handlung der Mutter ist nicht als einzelnes, isoliertes und harmloses Ereignis zu betrachten, sondern als Ursache und zugleich als Wirkung für die herrschende Unvernunft. In dieser Hinsicht beschwert sich das erzählende Ich über seine Mutter, weil sie sich dessen nicht bewusst ist, dass ihre damalige Handlung die kommende Gefahr, für deren Entstehung das erzählende Ich sie für mitverantwortlich erklärt, hervorgebracht hat: „Wie gefällt Dir die Aussicht, Mutter? Du siehst hinüber auf ein Wäldchen mit gemütlichen Ruhebänken und schönen Spazierwegen. Darunter liegen die Verscharrten, Mutter.“ (B, 100)
Die Unvernunft ist menschlichen bzw. gesellschaftlichen Ursprungs, da sie aus den alltäglichen Handlungen der Bürger entsteht, die zu ihrer Ursache werden, und die wieder zu ihrer Fortsetzung führen. Durch das Verhalten, den Mordakten keinen Widerstand zu leisten, bereitet der Mensch den Boden für das mörderische Regime. Die Mutter in dieser Situation ist weit davon entfernt, wahrzunehmen, dass sie durch ihr Verhalten die Unvernunft heraufbeschwört. Ihre Sorge in diesem Orden ist nur, ihr Leben fortzusetzen. Das erzählende Ich beklagt sich über die Ignoranz seiner Mutter: „Es war einmal eine Festschrift, in der dies Kapitel fehlt. Die Mütter sitzen still und vorwurfsvoll in ihren Stühlen vor den Fenstern zum Park und singen das schöne Lied Eswareinmal. Längst wissen sie nicht mehr, was vorgeht in der Welt vor den Toren ihres Stiftes, denn sie haben die Welt ins Stift verlegt, und das genügt ihnen.Draussen geht die Saat auf, liebe Mutter.“(B,101)
Das nationalsozialistische Regime resultiert aus den Folgen solcher alltäglichen Handlungen. Es ist sowohl Resultat menschlicher Handlungen als auch deren Ursache. Statt Unterwerfung ist politische Verantwortung für die bestehenden Umstände und Mitwirkung jedes Einzelnen erforderlich. Um bei dem Beispiel der Mutter zu bleiben, es fehlt ihr das Wissen und es gelingt ihr in dieser Situation nicht, gegen die Ordnung in diesem Orden Widerstand zu leisten, und den erforderlichen Preis für ihr Verhalten zu bezahlen, da der Widerstand immer mit einem zu bezahlenden Preis verbunden ist. Ihr fehlt der Mut, diesem Regime entgegenzutreten, und sich auf die damit verbundenen Gefahren zu begeben. Wie aus dem Verhalten der Mutter ersichtlich wird, steht jede Handlung in einer Verbindung mit den gesellschaftlich- politischen Verhältnissen in einer gegebenen Zeit. Auf den ersten Blick mag das Verhalten der Mutter als ein isoliertes, harmloses Handeln erscheinen, wenn man aber dieses Handeln mit der bestehenden Unvernunft in Verbindung bringt, verliert es seine Harmlosigkeit erst durch die Kraft des poetischen Denkens, das durch das Lesen erzeugt wird. [17]
Um ein Ziel zu erreichen, muss man sich nach Köpf bereit erklären, etwas Wertvolles, auch wenn das sein eigenes Leben sein mag, zu riskieren: “ Der Umgang mit Menschen, meine Lieben, sagt der Herr Präfekt von Tschernopol, der in seiner nie getrübten Liebenswürdigkeit durchaus auch launisch sein konnte, der Umgang mit Menschen ist auch nichts weiter als eine Frage des Preises, den man zu zahlen gewillt ist. Verschaffen Sie sich das Kapital, indem Sie Lebenskenntnis erwerben.“ (VdW, 84) Das Kapital, worauf es ankommt, ist Erkenntnis und Wissen; es ist das unentbehrlichste und kostbarste Mittel, das seine Wirkung in jeder Handlung zeigt und den Ablauf der Handlungen steuert und sie in der Verbindung mit dem Ganzen wahrzunehmen erlaubt, das geographische und zeitliche Grenzen aufzuheben ermöglicht, und für die Handlung und die Erfahrung eine gestaltende Funktion ausübt und den Menschen befähigt, nach dem Warum seiner Handlung in einer gegebenen Situation zu fragen.
Köpf ist von der Verkehrtheit der Welt und der Gestaltbarkeit dieser in eine humane Welt überzeugt. Es wird in jeder menschlichen Handlung entschieden, ob auf der Welt Unvernunft oder Humanität herrscht. Eine solche Auffassung betrachtet das ganze Leben als einen Kampfplatz; in einer solchen Lebensführung fühlt er sich nicht nur für sein eigenes Leben verantwortlich, sondern für das Schicksal des menschlichen Geschlechts. Das Leben wird ihm zu einer Aufgabe. Er betrachtet jede Handlung als einen Kampf, diese Aufgabe zu erfüllen, da in diesen Handlungen entschieden wird, ob auf der Welt Humanität oder Unvernunft herrscht. In den Handlungen geht es nur um Untergang oder Existenz des Ich, da Köpf sehr tief davon überzeugt ist, dass ein Nachgeben in einer einzigen Handlung dem Verrat der Humanität gleichkommt und dieses Nachgeben schon ein Beitrag zur Fortsetzung der Unvernunft bedeutet.
In seinem Roman „Die Strecke“[18] kann eine Parabel Einsicht in den Ausgangspunkt seiner Poetik vermitteln, denn er misst der Erkenntnis und der Einsicht in den Handlungen die Priorität bei. Der Streckenwärter ermahnt den Revisor, seinen Antipoden: „Bitte sehr, Herr Revisor: wer ein gesundes und leistungsfähiges Tier will, der muss auch für einen einwandfreien Stall sorgen.“(S, 50) Diese Aussage veranschaulicht, dass Köpf die bestehenden Umstände als menschliches Werk auffasst und dass Erkenntnis über jede Einzelheiten und Einsicht in das reibungslose Funktionieren für den Betrieb eine unabdingbare Bedingung ist. Nur durch die Erkenntnis und Einsicht in die Ganzheit der Details kann der Eingriff in das System unternommen werden. In dieser Hinsicht ist Erkenntnis das allerwichtigste und kostbarste Mittel, das das System im Betrieb regelt.
Die Erkenntnis ist daher nicht bloßes auch nicht spezifisches Wissen, das auf einen bestimmten Bereich beschränkt ist, sondern die Einsicht in das ganze System und in die Bestandteile, die das Ganze ausmachen und sowie in die Funktionen, die ihre Rolle im Ganzen spielen. Gemeint ist hier poetisches Wissen, das durch Einbildungskraft die Welt umspannt, indem es durch die Verknüpfungen der Beziehungen das Ganze wahrzunehmen erlaubt. Der Erwerb des poetischen Wissens ist das unentbehrlichste Mittel im Leben, so dass derjenige, der das Wissen nicht beherrscht, keinen Anspruch erheben kann, zu leben. Das Wissen, ohne das ein erfülltes Leben kaum vorstellbar ist, wird bei Köpf dem Leben gleichgesetzt. „Das Wissen ist lang, das Leben ist kurz, und wer nichts weiss, der lebt auch nicht.“( B, 88)
Das Wissen wird hochgepriesen, da von dem poetischen Wissen Kräfte ausgehen, die „in den Aktivitäten des Erkennens, Handelns und Verhaltens eine ebenso große Rolle (...) spielen.“[19] Lesen bekommt in Köpfs Poetik daher eine zentrale Stellung, weil Lesen zur Erkenntnis führt, sowohl das gesellschaftliche als auch das individiuelle Leben bestimmt. Die Handlungen sind die Praxis des Wissens überhaupt. Wenn die Handlungen ihren Lauf durch den Mangel des poetischen Wissens bekommen, münden sie unverweigerlich in die Unvernunft, die Dummheit ein. Eine einzige Handlung beherbergt in sich den Kern zerstörerischer Kräfte, die sich kumulieren und weltweite Dimension bekommen. Im Gegensatz zu der Mutter in „Borges gibt es nicht“ ist der Streckenwärter in „Die Strecke“ fest entschlossen, seine Strecke zu verteidigen und gegen die Stillegung der Strecke Widerstand zu leisten: „In jedem Falle werde ich auf Jammern, Heulen und Zähneknirschen verzichten und statt dessen handeln. Nicht reagieren, sondern handeln.“( S, 57 ) In seinem Roman „Die Strecke“ profiliert Köpf durch die Streckenwärterfigur Aggwyler einen engagierten Bürger, der zugleich auch intellektuelle Eigenschaften besitzt und daher auch als ein Prototyp für den Citoyen gehalten werden kann. Der Streckenwärter Aggwyler ist entschieden, seine Strecke zu verteidigen, sie „ist längst tot, ist doch schon lange am Verkrauten.“ (S, 152) Die Eisenbahngesellschaft hat aber ihre Stillegung schon geplant. Die Strecke zu verteidigen, steht in keiner Verbindung mit einer bezahlten Arbeit, sondern ist eine selbstauferlegte Aufgabe, die aber sein ganzes Leben in Anspruch nimmt. Endlich kann diese Lebensaufgabe als erfüllt gelten, wenn es ihm gelingt, die Stillegung seiner Strecke zu verhindern. Allein durch die Arbeit kann die Strecke erhalten werden: „Aber nicht Verzweiflung ist die Folge, sondern das Glück der Arbeit.“ (S, 22) Er setzt sich für die Strecke ein, weil die Strecke schon mit den anderen Eisenbahnlinien der Welt verbunden ist. In diesem Kontext machen “jede Schraube, jede Lasche die Strecke aus, die eben Teil des Weltplans ist.” (Siehe S, 91) Auf dieser Strecke ist jedes Detail in Bertracht zu ziehen, weil es das Ganze ausmacht: „Jede Schrunde ist wichtig, jede Schramme verweist auf eine Geschichte; es gibt nichts, was nicht von grosser Bedetung wäre.“(S, 208) Sein Wille, die Stillegung der Strecke zu verhindern, hängt mit der Bedeutung zusammen, die er ihr beimißt. Die Strecke sichert nicht nur Abfahren und Ankommen der Züge, sondern auch das Leben bekommt seine Gestalt durch die Strecke: „Dabei regelt die Kleinbahn den Tages-, ich behaupte sogar den Lebenslauf.“(S, 28) In dieser Hinsicht ist sie ein Faktor, wodurch auch die natürlichen Ereignisse in der Umgebung der Strecke geregelt werden: „Und wer beeinflußt den Wind, Herr Revisor? Selbstverständlich die Strecke.“ (S, 210) Durch die Verkrautung um die Strecke, die niemand zu verteidigen gewillt ist und niemand anzugehen scheint, wird auch die Umwelt zerstört: „Ein holdes Bild, wäre da nicht die Verrottung, die nichts ausläßt. Alles fällt zum Opfer; Häuser, Weiler, Wege, Wälder.“(S, 405) Er versucht, was in seinem Machtbereich steht, seine Strecke zu sanieren. Er stellt die fehlenden Materialien seiner Strecke fest, meldet sich bei der Eisenbahngesellschaft. Auf seinen Wunsch gehen aber die bezahlten Beamten nicht ein: „Aber die meisten Drähte sind gekappt, fast sämtliche Leitungen sind unterbrochen. Ich habe auf diesen unerträglichen Zustand der Thulserner Eisenbahngesellschaft schon hundertmal hingewiesen. Im Laufe der Jahre habe ich regelmäßig Meldung gemacht, Bericht erstattet: ohne Erfolg. Ohne auch nur einen Hauch von Erfolg. Niemand hat es höheren Orts für notwendig erachtet, meine Hinweise zur Kenntnis zu nehmen. Alles in den Wind gesprochen.“ (S, 123) Er kämpft gegen die Eisenbahngesellschaft, die für die Sanierung der Strecke nichts unternimmt und die in dem Roman mit dem Namen „Herr Revisor“ als Gesprächspartner des Wärters personifiziert wird. Er versucht sich gegen den Herrn Revisor durchzusetzen, um die Auflösung der Strecke zu verhindern. Der Revisor ist im Gegensatz zum Wärter ein Beamter, der von der Eisenbahngesellschaft bezahlt wird. Er hat keine eigene Meinung und erfüllt die von seinen Vorstehenden erteilten Befehle. Indem der Streckenwärter sich für jedes Detail an und in der Umgebung der Strecke interessiert, und mit ihr in Beziehung bringt, und dadurch ihre Bedeutung in seiner Vorstellung ständig zunimmt, scheint Aggwylers Antipode der Herr Revisor keine Aufmerksamkeit auf die Strecke aufzuweisen, weil er in seinem Büro sitzt: „Fähigkeit ist nicht gerade Ihre Stärke. Eher schon Anpassung und Duckmäuserei. (...) Zum eigenen Urteil, Herr Revisor, sind Sie nicht fähig. Sie lassen die Eisenbahn für sich denken. Sie selbst sind nichts als ein Vollstrecker. Befehl ist Befehl. Wohin die Züge fahren, ist ihnen gleichgültig, solange nur die Fahrpläne stimmen, (...) für die Kleinigkeiten haben Sie keinen Sinn. Gehorchen jedem Befehl, und sei er noch so erbarmungslos. Sie werden ihn ausführen, koste es, was es wolle.(...) So aber mangelt es Ihnen am Blick für das Wesentliche: der Strecke! Sie scheuen Auseinandersetzungen. Kontroversen gehen Sie aus dem Weg. Sie sind feige, Herr Revisor. Im Büro buckeln Sie, und zu Hause spielen Sie den Tiger.“ (S, 345)
Die Eisenbahngesellschaft geht nicht auf seine Wünsche ein. Angesichts der Tatsache, dass die Strecke niemanden außer ihn angeht, fühlt er sich sprachlos, weil er von niemandem in seiner Umgebung ernst genommen wird: „Warum hörte mir denn keiner zu, dass es mir gelingen würde, warum redeten sie alle durcheinander, ohne auf mich zu achten, sie auf meine Seite zu bekommen, sie herüberzuziehen auf die richtige Seite, aber ich war keiner von ihnen, wie sollte das je gelingen, wo ich keiner von ihnen war, auf meine Seite, so dass sich die alte Fallmühle unmöglich, ganz unmöglich neigen konnte und die alte Gerechtigkeit mit dem gewohnten Gleichgewicht, der geliebten Balance wieder hergestellt werden konnte.“ (S, 173)
Doch diese zu erfüllende Aufgabe erweist sich als Erzählen und daher keine leichte, kaum erfüllbare und das Leben eines Menschen überdauernde: „Wo Berge abzutragen sind, da reicht das Händereiben nicht.“ (S, 78) Köpf gebraucht diese Metapher fürs Erzählen, Erzählen heißt nämlich, den Berg abzutragen. „Unsereiner ist schon alt geworden, und wir selbst müssen das letzte Wort über uns sagen: um erzählend die Zeit zu besiegen und Dauer zu ermöglichen, obwohl alles dagegen spricht.“ (S, 241)
Der Wärter ist sich zwar dessen bewusst, dass seine Arbeit vergeblich ist. Aber trotz der Vergeblichkeit seiner Arbeit denkt er nicht daran, mit ihr aufzuhören: "Ungebeugt tue ich das Vergebliche, Schritt für Schritt, und das macht mich unangreifbar, Herr Revisor. Ich bin stärker als das Verhängnis, weil ich mit jedem Schritt von Schwelle zu Schwelle das Vergebliche neu wage.“ (S, 22 ) Diese Arbeit, seine Strecke erzählend zu verteidigen, stellt kein Zeichen für die Sanierung der Strecke, weil die Eisenbahngesellschaft stumm bleibt und in der Umgebung niemand ihn versteht. Er ist aber fest überzeugt, seine Arbeit fortsetzen zu müssen, auch wenn die Aussicht auf den Erfolg seines Vorhabens sehr gering ist, seine Versuche wird er nicht aufgeben. Die Strecke kann nur durch diese Arbeit, durch Erzählen erhalten werden. Auch wenn unter diesen Verhältnissen alles dagegen spricht, ist Erzählen das einzige Mittel, „die einzige Chance, zugleich die letzte Chance.“ (S, 359)
Aufgrund der Bedeutung der Strecke fühlt Aggwyler sich verpflichtet, gegen die Auflösung der Strecke Widerstand zu leisten, was nur durch Erzählen gelingen kann: „Mein Recht auf Widerstand gegen die Stillegung liegt in der Natur der Sache.“ (S, 92) An der Erfüllung dieser Aufgabe teilzunehmen, gehört zu der unverzichtbaren Aufgabe des Menschen und des Menschseins: „Es wird ein Recht sein, wie es jedem Menschen zusteht: weil er Menscht ist.“(S, 92) Er will zu dieser Strecke gehören, wo die Geschichten erzählt werden: „Davon Teil zu sein, das war mein Ziel.“(S, 17) In diesem Kampf ist das Ende noch offen und er ist nicht endgültig beschlossen: „Denn nichts ist entschieden. Nichts ist verloren.“(S, 12) Um die Auflösung seiner Strecke zu verhindern, sind andere Geschichten zu erzählen, eine nie endende Aufgabe trotz der Vergeblichkeit: „Eine neue Phantasie, eine neue Geschichte beginnt, ein anderer Traum, noch höher, noch verschraubter.“ (S, 399) Es gibt kein Ende in diesem Kampf. Jedes angebliche Ende einer erzählten Geschichte ist eigentlich ein neuer Anfang, eine neue zu erzählen, weil die schon erzählten Geschichten auf taube Ohren gestoßen sind und dadurch die Verkrautung um die Strecke nicht rückgängig gemacht werden konnte: “Gegen die Auflassung der Strecke setze ich meine Schritte über die Endstation hinaus, und auf diese Weise verlängere ich das Gleis, lege neue Schwellen, von Schritt zu Schritt. Immer weiter, immer steiler, die Strecke nimmt kein Ende, es wird keine Endstation mehr geben, auch die Fallmühle ist nichts anderes als eine jener Stationen, die ich hinter mir lasse, eine mehr. Draußen in der Ebene, stelle ich mir vor, hat die Verkrautung längst überhandgenommen.“ (S, 412) Er erwartet von keiner Instanz und niemandem Zustimmung, ist sich schon im Voraus bewußt, dass er nicht belohnt wird: „Ich bin gefaßt auf Verachtung und Abneigung und Mißverständnis seitens der übrigen Welt außerhalb von Blanchland, die nicht zu der zwingenden Notwendigkeit verflucht ist, die Welt Satz für Satz neu zu erfinden.“(S, 409) Auch die Instanzen wissen nicht einmal, welche Macht die Erzähler und die erzählten Geschichten auslösen werden: „Aber die Herrschaften haben keine Ahnung. Indem sie uns unterschätzen, begehen sie einen groben Fehler.“ (S, 82) Trotz seiner Überzeugung der Vergeblichkeit seines Vorhabens, die Strecke nicht verteidigen zu können, ist er nicht bescheiden und hadert sogar mit Gott: „Und dennoch: mein Wissen schien mir in diesen Augenblicken nicht viel geringer als das Gottes.“(S, 272) und auch mit dem von Gott erschafften Universum: „Angeblich bin ich jemand, auf den man verzichten, den man entbehren kann. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Ich werde mich gegen die Stillegung meiner Strecke wehren. Sogar die Sterne werden staunen.“(S, 289)
Wie anhand der Streckenwärterfigur ersichtlich wird, soll jeder in jeder Situation sein Handeln an der bestehenden Unvernunft abmessen und angemessen handeln, wenn ihn auch dieses zum Scheitern führen kann. Er soll das in Kauf nehmen. Die Verlierer sind nicht die Gescheiterten, sondern diejenigen, die auf den Widerstand gegen die Unvernunft verzichten. In jeder Situation geht es um Erfolg oder Scheitern. Handeln ist das äußerste Lebenszeichen von Köpfs Menschen: „Für sie gilt Bestehen oder Untergang. Bestehen kann, wer aktiv ist, sich nicht aufgibt, Mut besitzt, moralische Integrität trotz persönlicher Härten, von denen er getroffen wird. Verloren ist, wer sich aufgibt, in die Resignation verfällt.“ (HM, 58) Um die Unvernunft zu überwinden, sollte man dagegen Widerstand leisten. Das ist die allerwichtigste Aufgabe im Leben, sich der Inhumanität zu stellen, auch wenn es keine Aussicht auf einen Erfolg verspricht, da die Humanität auf der Welt nur durch eine mühsame Arbeit eingerichtet werden kann: „Nur mit brennender Geduld werden wir die “strahlende Stadt” erobern, die allen Menschen Licht, Gerechtigkeit und Würde schenken wird.“ (MdWG, 54)
[1] Zitiert nach Peter Engelmann (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung von Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 21
[19 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt/M. 1991, S. 35
[1] Zitiert nach Peter Engelmann (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Mit einer Einführung von Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 21
[2] Zitiert in Monika Emans – Schmitz: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 109
[4] Vgl. Ulrich Klotz: Ästhetik als Dialektik. Prolegomena zum Literaturbegriff bei Miguel de Unamuno. Hamburg 1998, S. 157
[5] Zitiert in Klaus Hübner: Aus einem Werkstattgespräch mit Gerhard Köpf. In: Irmgard Ackermann und Klaus Hübner. (Hrsg.): Gerhard Köpf. München 1989, S. 57
[6] Karlheinz Fingerhut: Es geht um die Wiedergewinnung des republikanischen Orts für Literatur und Leser. Gespräch mit Gerhard Köpf. In: Diskussion Deutsch. H. 101. 1988, S. 247
[7] Zitiert in Gerhard Köpf: In extremer Schräglage. Ein Nachmittag mit Miguel Torga. In: Gerhard Köpf: Vom Schmutz und vom Nest. Aufsätze aus zehn Jahren. Frankfurt/ M. 1991, S. 57-58
[8] Karlheinz Fingerhut: Es geht um die Wiedergewinnung des republikanischen Orts für Literatur und Leser. Gespräch mit Gerhard Köpf. In: Diskussion Deutsch. H. 101. 1988, S. 251
[9] Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 7
[10] Karlheinz Fingerhut: Es geht um die Wiedergewinnung des republikanischen Orts für Literatur und Leser. Gespräch mit Gerhard Köpf. In: Diskussion Deutsch. 1988. H. 101. S. 249
[11] Karlheinz Fingerhut: Es geht um die Wiedergewinnung des republikanischen Orts für Literatur und Leser. Gespräch mit Gerhard Köpf. In: Diskussion Deutsch. H. 101. 1988, S. 253
[12] ebd. S. 249
[13] Siehe Gerhard Köpf: “Der Don Quichotte sitzt mir immer im Genick” In. Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Samstag, 26. 10. 1985
[14]
Karlheinz Fingerhut: Es geht um die Wiedergewinnung des
republikanischen Orts für Literatur und Leser. Gespräch mit Gerhard
Köpf. In: Diskussion Deutsch. H. 101. 1988, S.249
[15] Gerhard Köpf: Der Thulserner Konjunktiv oder Rede über das allmähliche Flechten eines Zopfes während des Erzählens. In: Franz Loquai (Hrsg.): Der blaue Weg des Möglichen. Materialen zum Werk Gerhard Köpfs. Bamberg 1993, S. 129
[16] Gerhard Köpf: Borges gibt es nicht. Eine Novelle. Frankfurt/M. 1991
[17] Vgl. Rolf Geissler: Versuch über das poetische Denken. Frankfurt/M. 1994, S. 41
[18] Gerhard Köpf: Die Strecke. Roman. Frankfurt/M. 1985
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