Intellektuelle Existenz / Künstlerische Haltung
2. Das Verhältnis zur Zeit in „Piranesis Traum“
Gerhard Köpf nimmt als Thema in seinem Künstlerroman „Piranesis Traum“(P:T)[1] eine historische Persönlichkeit, Giovanni Battista Piranesi (1720-1778), einen Architekten aus Italien, der vor allem durch seine Radierungen, Veduten vor der Welt durchsetzen wollte. Als ein Architekt ging es ihm nicht nur um das Bauen an sich, sondern darum, die Beziehung zwischen dem Bauen und der Sprache, den Wissenschaften, der Philosophie, und der Politik herauszuarbeiten. Er hat sich nicht nur mit der Architektur befaßt, sondern auch schriftlich damit auseinandergesetzt. Er wollte durch seine Werke das antike Rom in das zeitgenössische verwandeln. Köpf verweist durch seinen Künstlerroman auf die Visionen, die Beharrlichkeit und den unermüdlichen Willen des Künstlers, diese in die Wirklichkeit zu überführen.
Gleich zu Beginn des Romans wird von einem erzählenden Ich, das sich als der Kupferstecher und Baumeister Piranesi erweisen wird, eine düstere Situation beschrieben. Es stellt sich tot im Sterbezimmer vor: “Ein schwarzer Flügelschlag wird um sie sein, wenn sie mich hinten in der Ecke in meinen Kleidern auf dem Bett liegend entdecken werden, das Gesicht hochmütig ihnen zugewandt, die Augenhöhlen von den Vögeln zerfressen.”(PT, 8) und sein Mund “voll trockenem Sand”(PT, 7)
Er ist seinem Tode nahe. Er wird in der Stille, in seiner Einsamkeit sterben. Er denkt an die Leute, und auch, dass die Leute die Geschichte von ihm erzählen werden, dass er bauen wollte. Es ist nur die Geschichte, die er als einziges Erbe hinterläßt. Was die Leute finden werden, sind die Papiere, seine Zeichnungen. Er hat keine Verwandte, die ihn begraben könnten. Er hat sogar seinen Grabstein selbst gemeißelt. Doch das erzählende Ich ist nicht überrascht, sondern ist schon auf sein hoffnungsloses Ende vorbereitet, da es sein Leben lang auch einsam gewesen ist. Sein Interesse scheint vielmehr darauf gerichtet zu sein, welche Reaktion sein Tod, seine Hinterlassenschaft und sein Leben auf die Zurückgebliebenen auslösen wird:“Sobald die Nacht endgültig hereingebrochen sein wird, werden sie sich am Küchentisch sitzend zwischen all meinen Papieren, Kupferplatten, Radiernadeln, Zeichnungen und Planen meiner erinnern und die Geschichte erzählen von dem Mann, der sich ein Haus bauen will.”(PT, 8)
Diese Hinterlassenschaft, die die Leute in seinem Sterbezimmer finden werden, sowie die Lebensgeschichte, die sie erzählen werden, sind Schlüsselbegriffe, die dem Roman eine besondere Prägung verleihen werden. Und gerade in diesem Ansatz des Romans liegen die Elemente der Problematik, die die Aussicht auf Piranesis Zukunft ermöglichen; die Vergangenheit des erzählenden Ichs, sein Nachlaß: Papiere und Kupferstücke. Wieder ist es seine Vergangenheit, die Hoffnung auf die Zukunft möglich macht; seine Werke und sein in eine Geschichte zu verwandelndes und verwandelbares Leben.
Dass gleich am Anfang des Romans das erzählende Ich, einsam und verlassen von allen Menschen, auf seinen Tod wartet, ist ein Indiz, dass dem Tod eine besondere Bedeutung zugewiesen wird : ”Von nun an sprangen meine Stunden über andere Zeiger. Mir gebe ich mehr Zeit zum Sterben und dem Tod mehr Zeit zum Leben.“ (PT, 220) Der Tod wird von dem Ich nicht als Endpunkt des Lebens begriffen, sondern der Gedanke an den Tod ist eine Kraft, die für das Leben notwendig ist, um es zu beantworten: “Als Vorbereitung auf den Tod dauert es genauso lang wie erforderlich. Schließlich lebt man nur, um sich auf das Totsein vorzubereiten.“ (PT, 217)
Der Tod als Endpunkt, als letzte Station des Lebens sollte in der chronologischen Abfolge im letzten Kapitel dargestellt werden, er ist aber in der Anordnung des Romans gleich am Anfang. Die hier verwendete Erzähltechnik macht die einen wichtigen Bestansteil der „Vergegenkunft“, Köpfschen Erzählens, aus: Widerstand leistendes Erzählen gegen die lineare Chronologie der Zeit; also die Geschichten werden nicht in der zeitlichen, lebensgeschichtlichen Abfolge und ereignis- oder psychologieparallel erzählt, da dieses Erzählen die Fortsetzung des linearen Denkens und des Bestehenden ermöglichen würde. Dass der Tod in der lebensgeschichtlichen Abfolge am Ende steht und dass das erzählende Ich in dem Roman gleich am Anfang von seinem eigenen Tod berichtet und der Roman fortgesetzt wird, ist ein Indiz dafür, dass für das Ich nach dem Tod eine gewisse Zukunft in Frage kommt.
Diese Situation ist zugleich auch eine Schlüsselstiuation, auf die die Erinnerungsebene und die Reflexionsebene des Romans verweisen. Die Erinnerungsebene und Reflexionsebene gehen folgen aufeinander und abwechselnd. Die Erinnerungebene verweist auf das früheres Leben des Künstlers, seine Geburt, seine Schuljahre, seine berufliche Laufbahn, auf den Umgang mit den Menschen, mit seiner Frau, seinen Kindern, auf seine Erfahrungen mit den anderen Architekten, den Kritikern und und sein Antipode Winckelmann.
In der Reflexionsebene sind seine Urteile über die Geschichtlichkeit, das Leben, den Tod, die Kunst, den Künstler, das künstlerische Werk dargestellt. Sie werden im Präsens wiedergegeben. Die Erinnerungsebene ist überwiegend im Präteritum oder im Perfekt gehalten. Aber es gibt auch Ausnahmen, wo eine vergangene Begebenheit mit dem Präsens dargestellt wird, wie z.B. die Stelle, wo von der Auswirkung der griechischen Kunst auf Maler in Paris erzählt wird: „Paris, 1790: (...) sie behaupten, sich in ihrer Kunst und ihrer Lebensführung nach dem Vorbild des antiken Griechenlands zu richten, um der neuen Republik die Tugenden des alten Athen wiederzugeben.“ (PT, 182)
Auf der gleichen Seite wird wieder über Vergangenes erzählt, aber diesmal abwechselnd im Perfekt und im Präteritum: „Wien. 1890: die Ringstraße ist vor kurzem fertig. (...) Maler und Architekten wühlten dabei in der Vergangenheit wie ein Opernregisseur in der Requisitenkammer. Selbst das Parlament wurde im klassischen griechischen Stil gebaut.“ (PT, 182) Eine Seite weiter ist von Hitler die Rede, dessen ehemaliger Wohnort in Wien im Präsens beschrieben wird, dem dann auch Futur folgt: „Ebenfalls in Wien, in einem weniger eleganten Viertel, nicht weit vom Westbahnhof, im Haus Nr. 29 der Stumppergasse, wohnt seit 1907 ein junger Mann namens Adolf Hitler. Er will Künstler werden, versagt aber bei der Aufnahme in die Akademie. Kümmerlich lebt er vom Verkauf seiner Zeichnungen und Aquarelle, auf denen er immer wieder die Prunkbauten der Ringstraße darstellt. Einige Jahre später wird er eine Reihe weiterer verkrachter Künstler um sich scharen, um mit ihnen die Welt ins Unheil zu stürzen.“ (PT, 183) Dass hier vergangene Ereignisse im Präsens dargestellt werden, deutet darauf hin, dass sie nicht vergangen sind, sie gehören eben durch ihre Auswirkungen auf Heute zum Jetzt.
Durch die Reflexionsebene werden die Handlungsstränge ständig unterbrochen. Piranesi berichtet über seinen Umgang mit seiner Frau, dann folgen seine Reflexionen über die künstlerische Existenz und das Kunstwerk, die Architekten. (Siehe PT, 86-90)
Die Bedeutungsebene wird erst erschlossen, wenn die Beziehungen zwischen der Erinnerungsebene und Reflexionsebene erraten sind. Beide Ebenen werden bewußt unterbrochen, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Verbindungen beider Ebenenen zu lenken. Die Erinnerungs- und Reflexionsebene sind aufeinander angewiesen, da in der Reflexionsebene die Handlungen kommentiert werden.
Einerseits nähert er sich im Sterbebett durch Erinnern seiner Geburt, seiner Kindheit, seinen Erfahrungen in den Schuljahren und erkennt in der Zeitreise kein Ende; er ist sogar bereit, bis zu dem Ursprung der menschlichen Geschichte zu gelangen, um sich über seine Lebensgeschichte und die Geschichte des Bauens klar zu werden. Auch die Geschichte des Bauens gehört zu seiner Lebensgeschichte „Das antike Rom war von Kindesbeinen an meine tiefste Erfahrung, und jedwede tiefste Erfahrung will unersättlich, will bis ans Ende aller Dinge Wiederholung und Wiederkehr, will die Wiederherstellung des Ursprungs, von dem sie ihren Ausgang nahm.“ (PT, 237) Andererseits verweist er in der Zeitreise in seine Vergangenheit auf die zukunftweisende Zeitrichtung. Als der Baumeister, der er nie werden konnte, sieht er sich mit einer zeitlichen Auseinandersetzung mit den vergangenen Architekten konfrontiert, um in der Zukunft zu existieren: “Mit komischer Verzweiflung, ein Vergeuder meiner Schmerzen, nie den Glauben aufgegeben, vom Schicksal zu etwas ausersehen zu sein, das jenseits der Baumgrenze anderer Baumeister lag. So ein Glaube läßt sich nicht erwerben, sondern er wächst wie ein Baum, dessen Krone himmelwärts strebt, während die Wurzeln hinab in die Vergangenheit wachsen.“( PT, 10) Die eine Zeitrichtung ist ein Hinweis auf die Vergangenheit, die nicht abgeschlossen ist, die mit seiner Geburt nicht endet, über seine Geburt hinaus sich weiter erstreckt in die frühere Vergangenheit und die andere Richtung ist auch nicht abgeschlossen, sie nimmt kein Ende mit seinem Tod, da der Tod kein Ende bedeutet, sondern darüber hinaus der Künstler seine Wirkung durch sein Werk weiter fortsetzt. Hier ist deutlich von zwei Zeitrichtungen die Rede. Die eine verläuft rückwärts in die Vergangenheit und die andere vorwärts in die Zukunft. Die beiden sind aber nicht abgeschlossen, sondern offen und können als ein beliebig verlängerbarer Zeitraum begriffen werden, sobald es ein Zeichen, eine Spur gibt, die diese Verlängerung ermöglicht.
Zugleich ist die durch seine Erinnerungen heraufbeschworene Zeitreise in die Vergangenheit, seine Geburt, seine Kindheit ein Hinweis auf den schmalen Pfad des Künstlers; er kann aber nicht die lebensgeschichtlichen Ereignisse verfolgend begriffen werden, sondern nur indem die Entwicklung in der Erinnerung und in der Reflexionsebene in Verbindung gebracht wird.
Piranesi berichtet von seiner Geburt derart, als habe er seine Geburt bewußt erlebt und erzählt auch davon, dass er durch einen Zufall am Leben geblieben ist : “Die Hebamme umklammerte mit ihrem Würgegriff meine Beinchen, hielt mich kopfunter und verpaßte mir den üblichen Schlag. Doch ich reagierte nicht. Hin und her wurde beraten, was zu tun sei. Zuerst wickelte man mich in feuchte Tücher, schließlich legte man mich in eiskaltes Wasser. Schon glaubten meine Eltern mich aufgeben zu müssen, denn ich hatte noch immer keinen Ton von mir gegeben. Da wirbelte mich der zufällig des Weges kommende Totengräber mehrmals wie eine Keule durch die Luft, packte mich in den Windeln und schob mich in das vorgeheizte Ofenrohr, darin ich kläglich zu schreien begann.” (PT, 31)
Schon die Geburtsszene und die am Anfang dargestellte Todesszene bilden eine Überraschung. Die Fiktion wird durch Erinnerungen, die den Tod und die Geburt des erzählenden Ich vergegenwärtigen, zur Realität. Indem er sich an seinen Ursprung, der nicht mit seiner Kindheit begrenzt ist, erinnert, versucht er auch in seiner Vergangenheit auf die zukunftweisenden Elemente hinzuweisen. Es sind die Erfahrungen in seiner Vergangenheit, d.h in seiner Kindheit, in seinen Schuljahren, die für ihn zugleich für seine zukünftige Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung sind.
Diese Erinnerungen bereiten den Leser zugleich auf den Verlauf der Zukunft von Piranesi vor: „Ich war von zu Hause begabt, aber was sage ich da, – jetzt ist es bereits zu spät, es noch abzuleugnen – als ganz ungewöhnliches Genie kam ich zur Welt.“ (PT, 31) Der Kupferstecher Piranesi berichtet davon, dass sein Vater Steinmetz war (siehe PT, 32) und er seine künstlerische Begabung im familiären Umfeld nicht fördern konnte: “Dabei war der Wille zur Kunst der Klasse meiner Herkunft ursprünglich fremd, da sie sich hauptsächlich in der Tüchtigkeit des Dienens geübt hatte.” (PT, 32) Er erzählt von seiner Neigung zum Bauen vor seinen Schuljahren: “Im Alter von drei Jahren entwickelte ich eine eigenartige Tüpfeltechnik, und schon ein Jahr später begann ich, Gegenstände in der Perspektive zu zeichnen.” (PT, 35) Sein Vater veranlaßt den Jungen bei seinem Schwager, dem Baumeister in die Lehre zu gehen. (siehe PT, 33) Er hat außerordentliche Eigenschaften: „Ich hatte einen Blick, so wurde mir nachgesagt, als könnte ich durch Mauern sehen.“ (PT, 35)
Schon von seiner Kindheit an: „Und als Kind hörte ich am liebsten die Geschichten von einstürzenden Türmen, die von Blitzschlag, Brand, oder Erdbeben gefällt wurden. Dabei dachte ich, nach oben gebe es keine Grenze.“ (PT, 16) geht es ihm darum, durch aus den Büchern gewonnene Vorstellungskraft, die Grenzen zu überschreiten, zu sprengen und seine Phantasien, seine Hoffnungen in die Höhe zu schrauben, und sich neue Visionen anzueignen: „Mit jedem Jahr ist mein Blick ausschließlicher in die Ferne gerichtet.“ (PT, 14)
Den Wendepunkt in seiner Kindheit erlebt er durch seine Bekanntschaft mit den Büchern, mit den Leseerlebnissen, die die Grenzen überschreitende Welt erfahrbar machen. (Siehe PT, 34) Den Leseerlebnissen mißt er eine derart wichtige Bedeutung bei, die seine Vision, seine Vorstellungskraft, seine Phantasien anregen und ihm als Zufluchtsort dienen, wo er sich vor den äußeren Gefahren schützt: “Ich habe mich immer in die Bücher wie auf eine Insel gerettet. Bücher haben in die Geschichte eingegriffen. (...) In ihnen sind die Hoffnungen ebenso aufbewahrt wie die Widersprüche, an denen diese Hoffnungen zerbrochen sind. Und sogar die Freiheit hat häufig zuerst und zuletzt zwischen den Buchstaben genistet.” (PT, 30 ) Er verbringt seine Zeit mit den Büchern, die ihm die Gelengenheit geben, die Geschichte als Wirklichkeit zu erleben, was ihm sonst versagt geblieben wäre: “Erlebt man geschichtliche Daten durch Imagination, kann die Wahrheit Wirklichkeit werden. Das Lesen und Vorlesen hat mein Leben entschieden.” (PT, 34)
Sein Umgang mit den Büchern, mit der Zeitreise in die Vergangenheit über seine Geburt, die Geschichte seiner Familie, seiner Sippe hinaus ist auch eine Möglichkeit sogar eine unabdingbare Voraussetzung für den Architekten, seinen eigenen Standpunkt in der Baukunst zu bestimmen: „Mir verschafft die Antike die Gelegenheit, meine eigene Kunst in ihrer historischen Stellung zu legitimieren und sie in ihrer Reihe mit antiker Architektur zu sehen und von dieser herzuleiten.“ (PT, 39) Als Piranesi zwischen 20 und 30 Jahre alt gewesen war, begann er über das Wesen der Zeit nachzudenken. Die Zeitreise in die Vergangenheit und in die Zukunft ist zugleich die Arbeit an sich, ein Selbsterschaffungsprozess: “Mein letzter, der Kunstwelt bislang gänzlich unbekannter Stich bewahrt den Prozeß seines eigenen Enstehens.“ (PT, 244) Erst durch diese Arbeit, sei es mit der Kupferstecherei, mit dem Zeichnen, dem Bauen oder der Malerei eröffnen sich neue Möglichkeiten, sein Ich zu erfinden: „Die Arbeit mit der kalten Nadel enthält die Erfahrung des Sehens und widersetzt sich dem Prozeß des Verschwindens und des Vergessens. Gewiß, meine Radierungen sind statisch. Sie halten das antike Rom fest. Aber ist ist nicht so, wie es gesagt ist. Sie bauen es vielmehr neu, denn dieses Rom habe ich erfunden. Es ist meine Schöpfung“ (PT, 245)
Diese Erinnerungsarbeit umfaßt und erfüllt seine Gegenwart, in der er außer dieser Tätigkeit nichts unternehmen kann, worüber er sich aber nicht beschwert: „Mit rastlosem Fleiß und hektischer Ungeduld suchte ich das Geheimnis der antiken Ruinen zu ergründen, studierte und skizzierte ich die Trümmerfelder vor Ort (...) Die Folge davon war ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch, der mich über Wochen ans Fieberbett fesselte. (...) Der Wahnsinn umgab mich wie eine goldene Wolke. (...) Diese Phantasien jedoch, die mein Bettzeug tränkten, habe ich nicht nur als schmerzhaft, sondern auch als höchst genußvoll und stimulierend empfunden, spielten sie mir doch jene Bilder vor Augen, die ich bald zu Stein werden lassen wollte.“ (PT, 40)
Die Tätigkeiten, sei es Bauen, Malerei und Zeichnen, mit denen Piranesi sich in seinem ganzen Leben beschäftigt, bekommen unbegrenzte Dimensionen für ihn. Bauen ist für ihn eine Tätigkeit, durch deren Vollzug er sich seiner Existenz bewußt wird: „Das Bauen ist einem Baumeister nichts anderes als ein ewiger Kampf, den der Künstler mit den übrigen Menschen um seine hervorragende Bedeutung kämpft.“ (PT, 43) Bauen ist Maß aller Dinge: „Mein Traum war das Bauen, denn die Architektur schafft Zusammenhänge. Sie setzt aus Steinen Mauern, aus Mauern Häuser, aus Häusern Städte zusammen.“ (PT, 226) Malerei ist eine Beschäftigung, wodurch er unsterblich werden kann: „Doch die Radiernadel ließ mich nicht los. Unentwegt berührte sie die letzten Dinge. Sie ist noch viel erbarmurgsloser als das unsichtbare Denken, weil sie jenen Härtegrad hat, der Dauer und Überleben in sich trägt.“ (PT, 41I)
Er interessiert sich für all die Gebäude, sogar die Chinesische Mauer, die zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und dem 15. Jahrhundert n. Chr. erbaut wurde. Er erzählt vom 33. Jahr, als sich die Chinesische Mauer im Bau befand, etwa eintausendsiebenhundert Jahre bevor Piranesi zur Welt kam: „Ich war schon dabei, als jene Große Mauer gebaut wurde, die sogar vom Mond aus zu sehen ist. Im 33. Jahr warf man im Nordwesten die Hung-no zurück.“ (PT, 14) Ihm geht es nicht nur um die Überschreitung zeitlicher Grenzen, sondern auch der örtlichen. Er stellt sich Venedig nicht nur als eine isolierte Stadt vor, wo er lebt, sondern in Beziehung zu den entlegensten Kontinenten der Welt: „Venedig hatte schon immer eine Beziehung zu Australien“ (PT, 27) Er beabsichtigt, den Boden herkömlicher Gedanken zu erschüttern, indem er die symbolischen Gebäude nicht auf ihren bekannten Plätzen, sondern anderswo zu errichten träumt: „Manchmal träume ich davon, nächtens heimlich den Turm von Pisa nach Venedig und den Campanile nach Pisa, den Eiffelturm nach London und den Tower nach Paris, ja sämtliche Türme (...) hin und her zu versetzen.“ (PT, 15) Er versetzt nicht nur den Eiffelturm, der erst hundert Jahre nach seinem Tod erbaut wurde, sondern auch die festgelegten Daten. Er spielt mit den Daten, stellt sie in Frage, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu prüfen und auch den Gedanken bei dem Leser zu erwecken, an dem Geschriebenen, Festgelegten, Endgültigen zu zweifeln.
Erst durch die Überschreitung der herkömmlichen Grenzen eröffnen sich neue Möglichkeiten, nach neuen Ufern, neuen Erfahrungen zu gelangen, das getrennte Ganze in den Details zu sehen: „Grenzen trennen und scheinen unverrückbar. An ihnen machen die Menschen ihre Erfahrungen. Doch es genügt nicht, nur an Grenzen zu stoßen: sich selbst muß man an Grenzen stoßen, denn an den Grenzen scheiden sich Länder, Zeiten und vor allem die Geister.(...) Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern die Grenze ist jenes, von woher etwas beginnt. Grenzen als gegeben hinzunehmen, das kann kein Künstler akzeptieren.“ (PT, 169)
„Piranesis Traum“ verweist auf den leidvollen, selbstquälerischen, selbstgewählten dünnen Pfad, auf den der Künstler sich begibt, auf dem er wandelt, um seine künstlerische Existenz zu verwirklichen. Die die Grenzen überschreitende Verantwortung kennt keine Grenze. Seine Verantwortung als Künstler ist nicht geringer als diejenige Gottes. Als Baumeister versteht er die Welt aus der Perspektive der Architektur. Auch der Architekt ist ein Gott: „Vielleicht kann sich heutzutage die Architektur nur noch auf sich selbst beziehen, das heißt auf den Architekten als Bezugspunkt aller Dinge. Vielleicht definiert nur noch er, was Oben ist und was Unten. Vielleicht ist der Architekt der letzte Gott.“ (PT, 226) Den Architekten fällt eine Gott vorenthaltene Funktion zu. Es sind die Baumeister, durch deren Gebäude die Welt zerstört wird: „Die sogenannten Architekten und insgesamt alle Baumeister und Bauleute sind nichts als Zerstörer und Vernichter der Erdoberfläche, mit jedem neuen Bauwerk, das sie bauen, begehen sie ein neues Verbrechen gegen die Menschheit, jedes Bauwerk, das heute von den Baufachleuten gebaut wird, ist ein Verbrechen!“ (PT, 26)
Es wird aber wiederum der Architekt sein, der die seit dem Beginn des Bauens zerstörte Welt wieder in eine dem Menschen angemessene Ordnung bringen wird. Da ist jeder Stein in dem Gebäude, jedes Gebäude in einer Stadt, und jede Stadt auf der Welt von außerordentlicher Bedeutung. Das ist der Gedanke, dessen die Architekten nicht bewußt sind, der aber zur Zerstörung der Städte führt. Piranesi versucht sich nicht nur gegen die Architekten, die die Welt vernichtet haben, sondern auch gegen die göttliche Macht durchzusetzen. Obwohl er ein Mensch ist, der zum Sterben, zum Vergänglichen verurteilt ist, erklärt er sich bereit, die göttliche Macht durch seine Arbeit in Frage zu stellen und göttliche Attribute wie die Unsterblichkeit, Überzeitlichkeit, schöpferische Kraft zu erkämpfen und mit Gott zu hadern.
Der Künstler erkennt in Gott seinen Rivalen und weist hochmütig darauf hin, dass Gott vor der Macht und Kraft, die von seinem künstlerischen Schaffen und Werk hervorgeht, zittert und zittern muß: „Aber ein teuflischer Gott, der mürrisch über seiner Schöpfung hockt, hat mir kurz vor dem Ziel mit wütend zusammengebissenen Zähnen einen riesigen roten Stolperstein namens Ayers Rock in meinen Traumpfad geworfen, mit dem besonders die untergehende Sonne Schreckliches anrichtet. Vermutlich hat er ihn mit all jener wütenden Häme gegen mich geschleudert, derer ein Gott überhaupt fähig ist: weil er befürchten mußte, in mir seinen Meister gefunden zu haben.“ (PT, 17)
Ihm geht es nicht darum, sich mit den weltlichen Maßstäben zu begnügen, weil das, was man erreicht, sterblich, vergänglich ist. Er ist focussiert auf die überzeitliche, göttliche Ordnung, nicht einmal Gott könne mit ihm Schritt halten. Was einem menschlichen Wesen auf der Erde Glück verspricht, lehnt er von Anfang an ab, da er das Glück nicht unter den Menschen finden kann: Er fühlt sich nicht zum menschlichen Wesen gehörig: „Genaugenommen ist aber meine ganze Existenz ein Irrtum. Ich selbst halte mich für eine fatale Abnormität der Menschennatur.“ (PT, 70) Als Mensch versucht er die göttliche Ordnung zu überbieten, nicht unter dem Niveau göttlicher Ordnung zu bleiben. “Nur die Natur mit ihrem ewig wiederkehrenden Zyklus wirkte auf mich wie Balsam. (...) Die Architektur verwandelte sich mir in die Natur zurück.“ (PT, 171)
Was sich an dieser ewigen, d.h. göttlichen und sich wiederholenden Ordnung in der Natur abmessen kann, ist nur ein Kunstwerk, ein Gebäude, in dem sich auch diese Ordnung widerspiegelt und auch wiederholt werden kann. “Denn nun wurde der Übergang der Kunst in die Natur zu meinem Thema.“ (PT, 173) Für ihn ist der Erwerb weltlicher Errungenschaften keiner Mühe wert. Ihm geht es nur darum, wiederholt zu werden: „Vielleicht ist das Glück der Wunsch nach Wiederholung.“ (PT, 210 ) Die in der Natur existierende und sich wiederkehrende Ordnung ist sein Maßstab zugleich auch derjenige der Kunst, durch deren Vollzug der Geist, um den es sich darin handelt, aus der Vergangenheit in die Gegenwart heraufbeschworen werden kann: „Die Kunst, so fand ich heraus, versieht nebenbei die Aufgabe, zu konservieren, auch erloschene, verblichene Vorstellungen ein wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren.“ (PT, 38)
Der Künstler kann die Unsterblichkeit nur durch die Kunst erlangen, die zugleich einzige Möglichkeit ist, mit dem Göttlichen zu hadern, sich gegenüber Gott durchzusetzen. Eine Bemühung aber, die ihm das Leben kostet: „In endlosen Selbstgesprächen hielt ich mir tosende Predigte und versicherte mir, nur das Künstliche verschaffe Aussicht auf eine künftige Wirklichkeit. Nur das künstliche Kunststück lebt. Der es schafft, ist tot.“ (PT, 101)
Das Künstliche, das Ewige, das Weltliche und das Menschliche befinden sich in einem unüberwindbaren Widerspruch. Auf der herrschenden Welt scheinen andere Werte als diejenigen zu herrschen, denen er sein Leben verschreibt: „Fortwährend hatte ich den Wunsch, Kontakt aufzunehmen, aber meine Kräfte schwanden bei jedem neuen Anlauf nur noch mehr. Hinzu kamen die Gemeinheit und die Bosheit und Hinterhältigkeit meiner nur am Geld, am Fressen, Saufen und Huren interessierten Umgebung, die sich mehr und mehr und in allen Erscheinungen einzig zu dem Zwecke zusammenzog, um mich zu zerstören und gänzlich zu vernichten, wogegen ich vollkommen machtlos war und ohne jeglichen Schutz. Überall sehe ich Stumpfsinn, Habgier und Heuchelei am Werk, es herrschen nurmehr Brutalität und Niedertracht.“ (PT, 41)
Jeder seiner Versuche, mit der äußeren Welt zu kommunizieren, scheitert, da er sich von der Außenwelt bedroht fühlt. Die Kommunikation, die in Frage kommt, ist das Selbstgespräch, da er auf jede Kommunikation mit den anderen verzichten soll, wenn er Überzeitlichkeit, schöpferische Tätigkeit und wiederkehrende Ordnung als Maßstab in seinem Leben akzeptiert; all die weltlichen Werte sind auch abzulehnen: “Adel gibt es allein in der Verneinung des Daseins, sagt der Philosoph.“ (PT, 30) Um den herrschenden Strömungen nicht zu verfallen, bleibt ihm die Einsamkeit als die einzige Existenzgrundlage übrig, um sich seiner Arbeit widmen zu können: „In Mode zu sein aber bedeutet, sich zum Verbündeten seiner eigenen Leichenträger zu machen. Das ist die grösste Gefahr für einen Künstler, weil er dabei nur allzu gerne auf seine eigene Eitelkeit hereinfällt.“ (PT, 67)
Die Auseinandersetzung mit der vorgegebenen Welt ist die einzige Voraussetzung. Den Kampf mit dieser unvernünftigen Welt aufzugeben, und sich an diese Umstände anzupassen, kommt nur um den Preis des Selbstverlusts in Frage. Von der Verantwortung, sich zu diesem Kampf zu stellen, kann Piranesi sich nicht loslösen. Er kann sein Ich erst in dem Kampf gegen die existierende Welt verwirklichen: “Wir kommen in eine uns vorgegebene, aber ganz und gar nicht auf uns vorbereitete Welt und müssen mit dieser Welt fertig werden. Werden wir nicht damit fertig, so gehen wir zugrunde.” (PT, 31) Er setzt sich all den Qualen, Leiden, die ihm die Außenwelt auferlegt, Geduld ist da gefragt, um die künstlerische Existenz zu erkämpfen, damit die Kunst überhaupt existieren kann: „Nicht nachlassen, sagte ich mir wieder immer, nicht aufgeben. Die Verhöhnung, die Verspottung ertragen. Die Kunst verkommt, wenn der Künstler darin nachläßt, die Verhöhnung und Verspöttung zu ertragen. Alle Welt hat mich für wahnsinnig erklärt, doch ich mußte hinnehmen.“ (PT, 137)
Es sind die Bücher, die ihm in seinen einsamen Tagen einen sicheren Unterschlupf vor den äußeren Gefahren bieten und auch die Arbeit: „Die Arbeit war die bitterste Medizin.“ (PT, 138) Bauen ist die Tätigkeit, in der er sich ausdrücken und bestätigt fühlen kann: „An allem habe ich gezweifelt, an allem bin ich verzweifelt, nur nicht an der Baukunst. Ein guter Baumeister denkt stets über seine Gebäude hinaus. Außerhalb des Bauens gibt es kein Heil und keine Rettung. Die Baukunst ist körperlicher Ausdruck meines Wesens. In diesem Bergwerk bin ich zu Hause“ (PT, 10)
Die Einsamkeit, die Arbeit und die Bücher sind sein Zuhause, da sie ihm ermöglichen, göttliche Werte zu erwerben. Die überzeitlichen Werte sind für ihn ein Maßstab. Er hat niemanden, auf den er bauen kann. Alle haben ihn im Visier. Auch seine Frau gehört zu denen, die ihm eine Falle stellen:“Ich bin immer von allen Menschen betrogen worden. Ich wurde von meiner Frau, von meinen Freunden, überhaupt von allen Menschen ununterbrochen betrogen. Das Leben ist nichts als eine große Verschwörung, um mich hereinzulegen.(...) Ich gehöre nicht in die hurengesichtige Masse, ich gehöre in mich selbst.“ (PT, 18)
Piranesi gelingt es nicht, seinen Traum zu erfüllen, bauen zu können. Der Grund für sein Scheitern sind die Mächtigen, die Kritiker, die Kunsthistoriker, Winckelmann. Die Auseinandersetzung von Piranesi mit den Kritikern geht auf seine Feststellung zurück, dass die Kritiker und die Kunsthistoriker den Künstlern vorschreiben, was und wie die Künstler bauen sollten. Durch ihre Arbeit dienen sie nicht dem Publikum, sondern den Herrschenden, dadurch reproduzieren sie die Macht der Herrschenden und tragen nicht der Verbreitung des Kunstwerks oder der Aufklärung des Publikums bei, sondern der Etablierung des Bestehenden. (Siehe PT, 135)
Auch seine Auseinandersetzung mit Winckelmann geht auf dieselbe Tatsache zurück. Winckelmann vertritt eine beschränkte Vorstellung von der Geschichtlichkeit und der Kunst im Vergleich zu Piranesi. Während Winckelmann behauptet, dass die Erneuerung der Kunst nur in der Nachahmung der griechischen Kunst (Siehe PT, 113) vollzogen werden kann, vertritt Piranesi die Auffassung, dass es nur dann gelingen kann, wenn sowohl die griechische, als auch die römische und die ägyptische Kunst in eine Beziehung gebracht werden und eine Synthese aus ihnen entsteht. Der Künstler soll auf keinen Fall eine gegebene Epoche in der Vergangenheit verehren, sondern sich auf eine ständige Suche nach geeigneten Methoden begeben. Erst in dieser Suche kann er seine Kunstvorstellung erfinden: „Wer mit klugem Bedacht das Griechische, das Etruskische und das Ägyptische miteinander verbindet, öffnet sich zugleich den Weg zu neuen Ornamenten und neuen Ausdrucksmitteln. Ich glaube an die schöpferische Macht der Kombinatorik und des Amalgamierens.“ (PT, 167)
Winckelmann bejaht die Autorität, ist auf Beifall Ruhm, Prestige, Geld angewiesen. (Siehe PT, 181) Dabei wechselt er sogar seinen Glauben, tritt zum Katholizismus über, um seinen Zugang zu den Herrschenden zu erleichtern.(Siehe PT, 113) Aber es stellt sich heraus, dass es ihm dabei an erster Stelle nicht auf den Glauben ankommt, sondern auf die Vorteile, die erst durch diesen Glaubenswechsel in Frage kommen. Der Beweis ist die Aussage seines Mörders: „Nie wollte Winckelmann mit mir in eine Kirche oder zur Messe gehen; wenn er an einer Kirche vorüberging, nahm er den Hut nicht ab. Und oft las er in einem großen Buche, das weder deutsch noch französisch noch italienisch, sondern in einer anderen Sprache gedruckt war, die ich nicht kannte. Deshalb hielt ich für das Ketzerwerk einer Geheimlehre, was sich hernach als griechische Ausgabe des Homer herausstellen sollte.“ (PT, 123)
Es ist auch Winckelmanns Kunstvorstellung, die zum Verhängnis von Piranesi wurde. Er wollte römische Gebäude errichten, erhielt aber keine Bauaufträge wegen Winckelmann, nach dessen These griechische Kunst zum Vorbild genommen und nachgeahmt werden sollte, um originell zu werden, so Winckelmann: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist ..... eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als auch im Ausdrucke.(...) Der einzige Weg für uns, groß, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“[2] Diese paradoxale Auffassung wurde zur leitenden Idee in der Klassik, einerseits öffnete sie die Türen für die griechische Kunst, andererseits stellte die römische Kunst aber in den Hintergrund, was nicht nur Piranesi, sondern auch die Menschheit zu der Katastrophe, nämlich zum zweiten Weltkrieg führte.
Der 9. November 1778 ist Piranesis Sterbetag. Aber das ist ein gefälschtes Datum. (Siehe PT, 219) Piranesi stirbt nicht, da die Künstler nicht sterben. Es ist sein Scheintod: „Erst nach meinem angeblichen Tod wurde ich, die Figur, zur Gestalt.“ (PT, 219) Piranesi berichtet von seinem eigenen Tod und auch von den Möglichkeiten, die der Tod ihm bietet; die Überwindung der zeitlichen und örtlichen Grenzen: „Ich starb im gleichen Zustand, in dem ich geboren wurde. Seit diesem Zustand bin ich grenzenlos geworden und unvorhersehbar für mich selbst. Tränen habe ich gelacht über meinen Größenwahn.“ (PT, 216)
Es gilt eine veränderte Einstellung zum Tod zu finden: „Was sind alle Anstrengungen der Menschheit im Vergleich zu dem vergeblichen und lächerlichen Versuch, sich dem Phänomen des Sterbens zu widersetzen, indem man einen Sinn zu geben versucht, als ob man ihm je einen anderen Sinn geben könnte als den, den er hat?“ (PT, 30) Für den Geist gibt es keinen Tod. Erst in der Suche nach einer neuen Einstellung zum Tod erfährt er eine ausgedehnte Zeitvorstellung: „Das Sterben ist eine Kleinigkeit für den, der genügend Phantasie hat. Es gibt Augenblicke unseres Daseins, in denen Zeit und Ausdehnung sich vertiefen und das Gefühl eine Erhöhung ins Unermeßliche erfährt.“ (PT, 216) Diese Zeiterfahrung vermittelt die Übersicht über die Zeit, die Orte, das Leben. Er kann durch diese Zeiterfahrung wie Vögel fliegen: „Dieses Hinaufschauen habe ich von den Vögeln gelernt. Noch einmal nahm ich alle mir noch zur Verfügung stehende Kraft zusammen und raffte mich zu einem letzten Zyklus auf.“ (PT, 199) Zu dem Leben eine gute Beziehung zu haben, schließt auch ein, dass zuerst die Fragen über den Tod geklärt werden sollen: „Friedhöfe dienen ausschließlich der Belehrung und Beruhigung, weil sie der einzige Ort sind, der nicht von der Katastrophe ablenkt. Sonst besteht unsere ganze sogannte widerliche Kultur ja nur darin, von der Katastrophe abzulenken.“ (PT, 224)
Er versucht nach seinem Tod aus dem Traum zu erwachen, da er sich das Leben auch als einen Traum vorstellt: “Gleich, was wir tun, wir bleiben Opfer unserer Leidenschaft, wir sind in einem Traum, liegen halb über, halb unter der Erde, und undurchdringlich unsere träumenden Häupter.“ (PT, 10) Nach seinem Tod setzt er mit seinen Reflexionen über die Kunst, sein Leben nach seinem Tod, die historischen Ereignisse, die Gründe, die zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, die Gefahr atomarer Zerstörung der gegenwärtigen Welt fort: „Uns und noch Generationen überdauern werden die Ruinen der Kernkraftwerke als Sinnbilder für eine vergangene Zukunft“ (PT, 235)
Piranesi erzählt nach seinem Tod weiter, wie Winckelmann, Kritiker, Baumeister, Architekten die Welt zerstört haben, indem er ihre Rolle im Vordergrund bei der Entstehung des Zweiten Weltkrieges betrachtet. Die Kritiker, die Architekten und Winckelmann genießen hohes Ansehen, sind berühmt, sind im Dienst der Macht und machen auch Karriere. Es sind die Kritiker, die solchen Architekten zum Ruhm verhelfen, die dann bauen können, die den Mächtigen dienen. Daher ist eine andere Einstellung zu der Geschichte des Bauens notwendig: „Die Geschichte der Architektur muß man andersherum schreiben, das heißt als Geschichte dessen, was nicht gebaut wurde.“ (PT, 184)
Nach Piranesi gibt es eine enge Beziehung zwischen dem zweiten Weltkrieg und den während der Hitlerregierung errichteten Gebäuden, da sie ihre Herrschaft der kriegerischen Pläne in ihren Gebäuden widerspiegeln wollen: „Winckelmanns Schönheitskult läßt die Hakenkreuzfahne über der Akropolis wehen, ordnet selbst die Kriegsziele der Antike unter, bewirkt Hitlers vergaste kunsthygienische Schreckensvision unter Berufung auf die Marmorskulpturen der Griechen, welche angeblich der Sehnsucht eines Volkes nach rassistischer Vollendung gestalterischen Ausdruck verleihen.“( PT, 189-190)
Die Gebäude sind ein Ausdruck der Herrschenden; die Bau- und Kriegspläne stehen in einer unmittelabren Beziehung: „Winckelmann konsequent zu Ende gedacht, heißt Herrschaftsarchitektur, heißt Hitler. Er ist Winckelmanns wahrer Erbe.“ (PT, 188) Und Winckelmann ist mit seiner Kunstheorie „Nachahmung der griechischen Kunst“ ein Theoretiker für Hitler: „In seinen Kunst- und Architektur- Reden berief er sich nicht zufällig immer wieder auf Winckelmann.“ (PT, 190) Piranesi stellt eine geschichtliche Verbindung zwischen Winckelmann und Hitler her, und behauptet, dass Hitler von Winckelmanns Idealisierung der griechischen Kunst und der Griechen ausgehend Idealisierung des arischen Volkes entwickelt hat und hinter der Machtübernahme von Hitler ein falsches geschichtliches Bewußtsein steht, das Winckelmann ausgelöst hat: „Laut Hitler sind die Germanen nämlich die natürlichen Nachkommen des dorischen Volkes, und das Germanentum muß das griechische Erbe für sich beanspruchen.“ (PT, 184)
Nach Piranesi soll der Architekt nicht den Mächtigen dienen, sondern er kann seiner Verantwortung nur dann gerecht werden, wenn er gegen sie Widerstand leistet und sich für die Allgemeinheit einsetzt, auch wenn sie im Begriff ist, ihn zu hindern, diese Aufgabe zu erfüllen: „In der Architektur kann der Schöpfer nicht im geheimen arbeiten, er muß in die Öffentlichkeit treten und mit dem Schritt in die Öffentlichkeit Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit übernehmen.“ (PT, 61) Der Architekt ist derjenige, der verschiedene Epochen miteinander in Verbindung bringt: „Architektur treibt Masse durch den Filter des Geistes. Sie ist überhaupt die Kunst, in der die größten Gegensätzlichkeiten vereinigt sind.“ (PT, 60) Auch nach seinem Tod bleibt Piranesi seinem Traum treu und will immer noch bauen, was ihm während seiner Lebenszeit nicht gelungen ist. Er will in Australien bauen: „All meine Kraft hatte ich erbarmungslos darauf verwendet, die Steine am Leben zu erhalten. Der rote Stand dieser Wüste aber wird meine Augen begraben, und wie Sand werden alle meine Traumbauten zerbröseln, einsam, düster, erstickt von einem immerwährenden warmen Wind.“ (PT, 228)
In der Persönlichkeit von Piranesi wird die Künstlerfigur nicht idealisiert, sondern in ihrer Nacktheit dargestellt und auf ihre Unzulänglichkeit hingewiesen. Der Künstler scheitert nicht nur wegen der Außenwelt, sondern auch daher, weil er eben ein menschliches Wesen ist, das sich aber dem Göttlichen, dem Überzeitlichen verschreibt: „Die ganze Welt fürchtet die Zeit, aber die Zeit fürchtet die Pyramiden.“ (PT, 163) Sein Dilemma besteht nicht nur aus seiner Abhängigkeit von den Mächtigen, sondern auch aus der Geschichtlichkeit, die sogar ein Kunstwerk im Laufe der Jahrhunderte, Jahrtausende in eine Ruine verwandelt: „Der Architekt kann heutzutage jede Stadt selbst auf dem Mond entwerfen. Nur bauen kann er sie nicht. Darin wiederholt sich mein danebengelebtes Leben.“ (PT, 87) Auch wegen seiner Unzulänglichkeit scheitert der Künstler Piranesi, weil er, als ein menschliches Wesen, göttliche Eigenschaften erwerben möchte.
Piranesi ist andererseits auf das Geld angewiesen, das er aber weder verdienen kann noch will, weil Geld ein vergänglicher, weltlicher Wert ist. Er kann zwar nicht bauen, aber als Radierer, als Kupferstecher ist er ein erfolgreicher Künstler und bekommt viele Aufträge, kann von der Kupferstecherei seinen Lebensunterhalt verdienen, macht auch große Umsätze. Er empfindet es aber als beleidigend, sein Leben für Gelegensarbeiten zu verbringen, weil Geldverdienen seiner Vision nicht entspricht. Die Kupferstecherei hält er für eine Dekoration, die mit dem Bauen, mit seinem Traum in keinem Zusammenhang steht, eine Beschäftigung, die ihn von seinem Traum abbringt. Er will lieber als Architekt untergehen, als als Radierer oder Künstler zu gelten: „Anstatt meine Träume als Baumeister zu verwirklichen, mußte ich ein Ladengeschäft eröffnen, um mich als Radierer und Kunsthändler zäh über Wasser zu halten. Stellen Sie sich vor: ein Ladengeschäft! Wie ich dieses Krämertum verabscheute. Einerseits ermöglichte es mir mein Auskommen, und war mir insofern willkommen, andererseits fühlte ich mich wie ein Gefesselter.“ (PT, 59)
Er gerät damit in die Abhängigkeit der Mächtigen, der Päpste: „ Der Vatikan: ein Ort des Stumpfsinns, bewohnt von Stumpfsinnigen, über Jahrhunderte am Leben gehalten von Stumpfsinnigen. Der Vatikan glaubt, die Welt höre auf, wo er selbst aufhöre. Nur Stumpfsinnige glauben dies von sich selbst. Die katholische Kirche hat den zerstörten Menschen auf dem Gewissen (...) Millionen und schließlich Milliarden verdanken der katholischen Kirche, hat der Tüftler am Rad der Geschichte und Bruder im Geiste absolut richtig bemerkt, dass sie von Grund auf zerstört und ruiniert worden sind.“ (PT, 162)
Es war derselbe Piranesi, der mit Bitterkeit hinnehmen sollte, dass seine Bauaufträge von den Herrschenden nicht akzeptiert wurden. Er hatte Pläne für Städte und Gebäude entworfen, die von den Herrschenden abgelehnt wurden. ”Vergebens legte ich meine Entwürfe dem römischen Kaiser, dem König von Frankreich, den Päpsten, Kardinälen, Fürsten und Potentaten vor. Alle hörten mich an, alle waren begeistert.(...) Wenn es aber ans Bauen selbst ging, dann schoben sie von Jahr zu Jahr auf: Ja, wenn sich die Finanzlage bessert....“ (PT, 12)
Piranesi möchte die vorgegebene Welt verwandeln, ist aber mit der Realiät konfrontiert: „Nur in der Vorstellungskraft findet jede Wahrheit ein wirkungsvolles und nicht zu widerlegendes Dasein.“ (PT, 34) Der Künstler Piranesi, dessen Willen zu bauen, kein Hindernis auf der Welt aufzuhalten scheint, arbeitet an seinem Vorhaben, und versucht nach seinem Tod nachzuholen, was ihm während seines Lebens versagt bleibt. All seine Versuche erfüllt er nur in seiner Vorstellung. Wenn er aber diese Vorstellung in die Wirklichkeit zu überführen versucht, leistet seinem Vorhaben sogar der Boden Widerstand, auf dem er sein Gebäude errichten möchte. Auch sein letzter Versuch wird zum Scheitern verurteilt. Diesmal gelingt es ihm nicht einmal, in der leeren australischen Wüste zu bauen. Zwar ist die Wüste leer, aber sie ist auch heilig. Sogar die Tiere hatten schon ihre Pfade, ihre Territorien als ihre eigenen gezeichnet und sie haben auch ihre Spuren hinterlassen. Auch die Tiere riskieren ihr Leben, um ihre Territorien vor den Eindringlingen zu schützen. Außerdem hat Piranesi festzustellen, dass auch Ayers Rock ein heiliger Platz ist wie die anderen heiligen Berge, die nicht abzutragen, nicht zu versetzen sind. „Und all die Pfade verbinden und kreuzen sich am Ayers Rock. Er ist ein heiliger Berg, wie der Ararat, wo Noah strandete, ein Heiligtum für die Armenier ist.“ (PT, 242)
Diesmal steht ihm Ayers Rock in der australischen Wüste im Wege, seine Tätigkeit auszuüben. Da ist jeder Stein mit anderen Steinen verbunden.“Und dann sind da gleich nebenan noch immer die Olga-Berge, um die Aussicht ein weiteres Mal zu verstellen. Sie lassen sich so wenig abtragen wie Ayers Rock. Ein Stein ist immer von anderen Steinen umgeben.
Ich hätte das wissen müssen.“( PT, 243)
Die Gründe für die herrschenden Umstände liegen nach Piranesi in dem falschen geschichtlichen Bewußtsein. Die Vergangenheit und die Zukunft gehören zur Gegenwart und sind auch offen, verlängerbar und verfügbar, wenn man durch seine Einbildungskraft die Spuren verfolgt: „Die Vergangenheit dirigiert die Gegenwart wie ein willentlich falsch spielendes Orchester. (...) Aber das Vergangene abgetan sein lassen, die Zukunft der Vorsehung anheimstellen – beides heisst den Sinn der Gegenwart nicht verstehen, die überhaupt nur soweit als Realität gelten kann, als sie durch Treue des Gedächtnisses das Vergangene zu bewahren, durch Bewusstsein der Verantwortung die Zukunft einzubeziehen versteht.“ (PT, 42) Jede Stunde zählt; was durch Jahrhunderte, Jahrtausende als Geschichte entsteht, ist nichts anderes als die Haltungen des Menschen im Alltag: „Auch die Epoche ist nichts als Alltag. Nicht das, was ich war und wie ich handelte, wird den Nachgeborenen zugetragen, vielmehr das, was hinzugetan wurde an Kommentaren in den Erinnerungsgalerien.“ (PT, 220) Es liegt am Mangel des Menschen, der sich seiner Rolle bewußt ist: „Ich schaue mir diese Menschen an und weiß, dass jeder von ihnen eine Geschichte, ein Buch ist, das niemals geschrieben werden wird. Geschichte scheint in solchen Augenblicken für sich selbst zu existieren und sich nicht um Menschen zu kümmern, obgleich sie von ihnen gemacht wird.“ (PT, 23)
Dass schon die Kunst eine Übertreibung ist, bringt er bewußt zum Ausdruck: „Ohne Übertreibung keine Kunst. Und ohne Kunst keine existierenswerte Existenz. Aber das ist beiseitegesprochen, natürlich wieder eine Übertreibung.“ (PT, 233) Ihm ist auch klar, dass er die Weltverwandlung, die er sich gewünscht hätte, nicht in Gang bringen konnte. Daran schuld ist nur er selbst. Er sucht nach keinem Verantwortlichen; er fühlt sich schuldig: “Mein danebengelebtes Leben ist voller hilfloser und nutzloser Korrekturen. Fortwährend versuche ich es mit der größten Rücksichtslosigkeit gegen mich selbst zu korrigieren, weil ich in jedem Augenblick erkenne, dass ich alles falsch gemacht habe. Ich habe falsch geschrieben, falsch gedacht, falsch gehandelt, falsch gelebt. Daraus ergibt sich eine einzige Aufgabe: meine ganze Existenz als eine einzige bodenlose Fälschung und Verfälschung anzusehen.“ (PT, 241)
Es stellt sich heraus, dass, was er bauen wollte, nicht unbedingt ein Gebäude ist, sondern er „wollte ein Denkgebäude errichten.“ (PT, 19) Ein Denkgebäude des Künstlerbildes mit all den Idealisierungen und den Unzulänglichkeiten des Künstlers. Gerhard Köpf gelingt es, einen Künstlerroman zu schreiben. Die düstere Einführung am Anfang schwindet gegen Ende und verwandelt sich in die Hoffnung, dass von dem Leser begriffen wird, was für eine Arbeit von ihm erwartet wird, nämlich die Arbeit, die Bewegungen, die Beziehungen der Ebenen des Romans miteinander zu verbinden, und seine noch ernstere Aufgabe zu erkennen, die schlechte Zeit, in der er lebt, in eine gute Zeit zu verwandeln, was aber sein ganzes Leben beanspruchen kann. Piranesis Traum, Hoffnung ist an den Leser gerichtet: „Wir leben doch nie in der richtigen Zeit, wir leben doch immer nur in der falschen Zeit. Ich kenne keinen Menschen, der in der ihm angemessenen richtigen Zeit lebt. Denn das ist die Kraft, die uns durch die Jahre treibt(...) Diese Kraft zwingt uns zur Arbeit, und dabei singt sie und will nicht aufhören. Ein Kunstwerk ist nicht vollendet, wenn es schließlich mit etwas Existierendem übereinstimmt wie die linke Socke mit der rechten, sondern wenn sich der vorausgesehene Augenblick, betrachtet und erkannt zu werden, erfüllt.“ (PT, 247)
[1] Gerhard Köpf : Piranesis Traum. Roman. Hamburg, Zürich 1992
[2] Zitiert in Hermann Glaser, Jakob Lehmann, Arno Lubos: Wege der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1981, S. 147-148
Yorumlar
Yorum Gönder